Der kleine Freund: Roman (German Edition)
rannten und sich gegenseitig herausforderten, die Hand in den Ködereimer zu stecken, und kreischend wieder wegrannten...
Immer weiter ging sie. Alle Leute schienen zu verstummen, bemerkte sie, wenn sie näher kam, aber das bildete sie sich vielleicht nur ein. Bei den vielen Menschen konnte er ihr hier unten nichts anhaben, aber dann kribbelte es in ihrem Nacken, als ob sie jemand anstarrte. Nervös sah sie sich um und erstarrte, als sie nur wenige Schitte hinter sich einen schmuddeligen jungen Mann in Jeans und mit langen dunklen Haaren sah. Aber es war nicht Danny Ratliff, sondern nur jemand, der aussah wie er.
Der Tag selbst, die Menschen, die Eisboxen, das Geschrei der Kinder, hatte eine grelle Bedrohlichkeit angenommen. Harriet ging einen Schritt schneller. Die Sonne blitzte auf den verspiegelten Brillengläsern eines üppig gepolsterten Mannes (mit aufgeschwollenen Lippen, eklig vom Kautabak) am anderen Ufer. Sein Gesicht war völlig ausdruckslos; Harriet schaute hastig weg, fast so, als habe er eine Grimasse geschnitten.
Gefahr überall jetzt. Was war, wenn er irgendwo an der Straße auf sie wartete? Das würde er tun, wenn er clever war: den Weg zurückgehen, außen herumlaufen und ihr dann hinter einem geparkten Auto oder einem Baum auflauern. Sie musste schließlich nach Hause, oder? Sie würde die Augen offen halten und auf den Hauptstraßen bleiben müssen, durfte keine Abkürzungen durch einsame Gegenden nehmen, was schwierig war, denn es gab eine Menge einsame Gegenden hier im alten Teil der Stadt. Und wenn sie in der Natchez Street wäre, wo die Bulldozer bei der Baptistenkirche solchen Lärm
machten, wer würde sie da hören, wenn sie schrie? Wenn sie im falschen Augenblick schrie: niemand. Wer hatte Robin gehört? Und er war mit seinen Schwestern im eigenen Garten gewesen.
Das Ufer war jetzt schmal und steinig geworden und lag ziemlich verlassen da. Gedankenverloren stieg sie die Steintreppe (rissig und mit kleinen runden Nadelkissen aus Gras bewachsen) zur Straße hinauf und wäre auf dem Treppenabsatz beinahe über ein schmutziges kleines Kind mit einem noch schmutzigeren Baby auf dem Schoß gestolpert. Auf einem alten Männerhemd, das wie eine Picknickdecke auf dem Boden ausgebreitet war, kniete Lasharon Odum und ordnete geschäftig die viereckigen Stücke einer zerbrochenen Tafel Schokolade auf einem großen, pelzigen Blatt. Neben ihr standen drei Plastikbecher mit gelblichem Wasser, das aussah, als habe sie es aus dem Fluss geschöpft. Alle drei Kinder waren übersät von Krusten und Mückenstichen, aber was Harriet vor allem bemerkte, waren die roten Handschuhe – ihre Handschuhe, die Handschuhe, die Ida ihr geschenkt hatte, verdreckt und kaputt – an Lasharons Händen. Lasharon blickte auf, aber bevor sie ein Wort sagen konnte, schlug Harriet ihr das Blatt aus den Händen, sodass die Schokolade durch die Luft flog, stürzte sich auf sie und warf sie zu Boden. Die Handschuhe waren zu groß und an den Fingerspitzen leer; Harriet riss ihr den linken ohne große Mühe von der Hand, aber als Lasharon begriff, worauf sie es abgesehen hatte, fing sie an, sich zu wehren.
»Gib den her! Er gehört mir!«, schrie Harriet, und als Lasharon die Augen zukniff und den Kopf schüttelte, packte sie ein Büschel von Lasharons Haaren. Lasharon kreischte und griff sich mit den Händen an die Schläfen, und im selben Augenblick zog Harriet ihr den Handschuh ab und stopfte ihn in die Tasche.
»Das sind meine «, zischte sie. »Diebin!«
»Meine!«, kreischte Lasharon in ratloser Empörung. »Die hat sie mir geschenkt!«
Geschenkt? Harriet war verdattert. Sie wollte schon fragen, wer ihr die Handschuhe geschenkt hatte (Allison? Ihre Mutter?),
aber dann ließ sie es bleiben. Das Kleinkind und das Baby starrten sie mit großen, angstvollen Augen an.
»GESCHENKT hat sie ...«
»Halt die Klappe!«, fuhr Harriet sie an. Sie schämte sich jetzt ein bisschen, weil sie einen solchen Wutanfall bekommen hatte. »Komm ja nicht noch mal zum Betteln zu mir nach Hause!«
In der kurzen, verwirrten Pause, die darauf folgte, drehte sie sich mit wild klopfendem Herzen um und lief schnell die Treppe hinauf. Der Zwischenfall hatte sie so heftig aufgebracht, dass sie Danny Ratliff für den Augenblick vergessen hatte. Wenigstens , dachte sie – und wich hastig auf den Gehweg zurück, als ein Kombiwagen auf der Straße an ihr vorbeischoss; sie musste wirklich aufpassen, wo sie hinlief – wenigstens hab ich die
Weitere Kostenlose Bücher