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Der kleine Freund: Roman (German Edition)

Der kleine Freund: Roman (German Edition)

Titel: Der kleine Freund: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Donna Tartt
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Footballspieler haben überhaupt keinen Spaß . Die müssen aufstehen und ihre Runden laufen, wenn es noch dunkel ist, und Coach Cogwell brüllt sie dauernd an, es ist wie bei der Nationalgarde oder so was. Aber Chuck und Frank und Rusty und die vom zweiten High-School-Jahr in der Trompetensektion... die sind so viel irrer als irgendeiner von denen im Footballteam.«
    »Hmm.«
    »Die geben andauernd Widerworte und reißen verrückte Witze und haben den ganzen Tag ’ne Sonnenbrille auf. Mr. Wooburn ist cool, dem macht das nichts. Gestern zum Beispiel – warte mal«, sagte er zu Harriet und dann zu einer Nörgelstimme im Hintergrund: »Was?«
    Ein Wortwechsel. Harriet wartete. Nach ein, zwei Augenblicken war Hely wieder da.
    »Sorry, ich muss jetzt üben«, sagte er tugendsam. »Dad sagt, ich muss jeden Tag üben, weil meine neue Posaune ’ne Menge Geld gekostet hat.«
    Harriet legte auf, stützte sich im trüben Licht des Flurs mit den Ellenbogen auf den Telefontisch und dachte nach. Hatte er Danny Ratliff vergessen? Oder interessierte es ihn einfach nicht mehr? Ihr mangelnder Kummer über Helys distanzierte Art überraschte sie selbst, aber sie empfand unwillkürliche Freude darüber, wie wenig sie seine Gleichgültigkeit schmerzte.

    In der Nacht zuvor hatte es geregnet, und obwohl der Boden nass war, konnte Harriet nicht erkennen, ob in letzter Zeit ein Auto über den breiten Schotterstreifen gefahren war (eigentlich ein Ladebereich für Baumwollwaggons und keine Straße), der das Rangiergelände mit dem Güterbahnhof und den Güterbahnhof mit dem Fluss verband. Sie stand mit ihrem Rucksack  – das orangefarbene Notizbuch unter dem Arm, falls irgendwelche Hinweise aufzuschreiben wären – am Rand der weiten Verladestelle und schaute hinaus über die Weichen und Schleifen und Rammböcke auf den Gleisen, auf die weißen Warnkreuze und die toten Signallaternen, die rostverkrusteten Güterwaggons in der Ferne und den Wasserturm, der auf seinen Spindelbeinen hinter allem hoch aufragte: ein riesiger runder Tank mit einem spitzen Dach, das aussah wie der Hut des Blechholzfällers im Zauberer von Oz. In ihrer frühen Kindheit hatte sie eine seltsame Zuneigung zu dem Wasserturm entwickelt, vielleicht wegen dieser Ähnlichkeit. Er erschien ihr wie eine Art stummer, freundlicher Wächter, und wenn sie
schlafen ging, dachte sie oft daran, wie er irgendwo da draußen einsam und ungeliebt im Dunkeln stand. Als sie sechs war, waren an Halloween ein paar böse Jungen auf den Turm geklettert und hatten eine Furcht erregende Teufelsfratze auf den Tank gemalt, mit Schlitzaugen und Haifischzähnen – und danach hatte Harriet viele Nächte lang aufgeregt wach gelegen und nicht schlafen können, wenn sie an ihren standhaften Gefährten dachte, wie er jetzt mit seinen Vampirzähnen feindselig und finster über die schweigenden Dächer hinausstarrte.
    Das Furcht erregende Gesicht war längst verblichen. Jemand anders hatte mit Goldfarbe Examen ’70 darüber gesprüht, und auch das war inzwischen verblasst, von der Sonne gebleicht und vom Regen der Jahre verwaschen. Streifen des Verfalls zogen sich in melancholischen schwarzen Tropfen von oben nach unten über die Wand des Tanks – aber auch wenn es eigentlich nicht mehr da war, brannte das Teufelsgesicht immer noch in ihrer Erinnerung wie der Nachglanz eines hellen Lichts in einem gerade verdunkelten Zimmer.
    Der Himmel war weiß und leer. Wenn Hely dabei ist , dachte sie, hat man wenigstens jemanden , mit dem man reden kann . War Robin wohl hierher zum Spielen gekommen? Hatte er rittlings über seinem Fahrrad gestanden und auf die Bahngleise hinausgeschaut? Sie versuchte, das alles mit seinen Augen zu sehen. Es dürfte sich kaum viel verändert haben; vielleicht hingen die Telegraphendrähte inzwischen ein wenig stärker durch, und vielleicht waren die Ranken und Winden in den Bäumen ein bisschen dichter geworden. Wie würde das alles wohl in hundert Jahren aussehen, wenn sie tot wäre?
    Sie überquerte das Gelände des Güterbahnhofs in Richtung Wald, sie hüpfte über die Schienen und summte vor sich hin. Noch nie hatte sie sich allein so weit in diese verlassene Gegend vorgewagt. Als sie den Pfad in den schattigen Wald erreicht hatte (üppige Vegetation, die knisternd durch die Ruinen ihrer im Tod erstarrten Stadt wucherte, die Gehwege aufbrechen ließ und sich durch die Häuser schlängelte), war der Übergang vom Warmen ins Kühle so, als schwimme sie im See
in eine

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