Der kleine Freund: Roman (German Edition)
ganze Weile verging – eine halbe Stunde ungefähr – und ihre Mutter nicht erschien, schob sie sich rückwärts eine Stufe höher und dann noch eine, bis sie sich schließlich ganz hochgearbeitet hatte und auf der obersten Treppenstufe saß, mit dem Rücken zu dem Lichtstreifen, der unter der Tür ihrer Mutter hindurchschien. Sie spitzte die Ohren: Die Stimmlage ihrer Mutter war klar und deutlich zu hören (rau, flüsternd), aber ihre Worte waren es nicht.
Schließlich gab sie auf und ging hinunter in die Küche. Ihr Atem ging immer noch flach, und ab und zu zuckte ein Muskel schmerzhaft in ihrem Brustkorb. Durch das Fenster über der Spüle strömte das Sonnenlicht in die Küche, rot und violett und grandios, wie es im Spätsommer werden konnte, wenn Hurrikanwetter aufkam. Gott sei Dank bin ich nicht zu Edie zurückgerannt , dachte sie. In ihrer Panik war sie dicht davor gewesen, sie zu Edies Haustür zu führen. Edie war zäh, aber sie war trotzdem eine alte Dame mit gebrochenen Rippen. Die Schlösser im Haus: lauter alte Kastenschlösser, leicht aufzubrechen. Oben an Vorder- und Hintertür waren altmodische Riegel, völlig nutzlos. Als sie einmal geglaubt hatte, die Tür klemme, hatte sie sich von außen mit ihrem ganzen Gewicht dagegengeworfen, und noch jetzt, Monate später, baumelte der Beschlag an einem einzigen Nagel am morschen Türrahmen.
Ein leiser, frösteln machender Wind wehte durch das offene Fenster über ihre Wange. Oben und unten, überall waren offene Schiebefenster, von Ventilatoren aufgehalten, offene Fenster in praktisch jedem Zimmer. Was sollte ihn daran hindern, geradewegs hierher zum Haus zu kommen? Und wieso sollte er sich mit den Fenstern plagen, wenn er so gut wie jede Tür benutzen konnte?
Allison kam barfuß in die Küche gerannt, nahm den Telefonhörer ab, als wolle sie jemanden anrufen, und lauschte ein paar Sekunden mit einem komischen Gesichtsausdruck, bevor sie auf die Gabel drückte und den Hörer behutsam wieder einhängte.
»Mit wem spricht sie?«, fragte Harriet.
»Mit Dad.«
»Immer noch? «
Allison zuckte die Achseln, aber ihr Gesicht war sorgenvoll, und sie lief mit gesenktem Kopf hinaus. Harriet blieb noch einen Augenblick stirnrunzelnd in der Küche stehen. Dann ging sie zum Telefon und nahm den Hörer ab.
Im Hintergrund hörte sie einen Fernseher. »... könnte es dir ja nicht verdenken«, sagte ihre Mutter in nörgelndem Ton.
»Sei nicht albern.« Die gelangweilte Ungeduld ihres Vaters hörte man an seinem Atmen. »Warum kommst du nicht her, wenn du mir nicht glaubst?«
»Ich will nicht, dass du etwas sagst, was du nicht meinst.«
Leise drückte Harriet die Gabel herunter und hängte dann ein. Sie hatte befürchtet, dass die beiden über sie sprechen könnten, aber das jetzt war noch schlimmer. Es war schon schlimm genug, wenn ihr Vater zu Besuch kam und das Haus von lärmender Heftigkeit erfüllt und von seiner Gegenwart aufgeladen war, aber ihm lag etwas daran, was die Leute von ihm dachten, und wenn Edie und die Tanten in der Nähe waren, benahm er sich besser. Zu wissen, dass sie nur ein paar Straßen weit entfernt waren, gab Harriet ein Gefühl von größerer Sicherheit. Und das Haus war so groß, dass sie auf Zehenspitzen umherschleichen und ihm die meiste Zeit aus dem Weg gehen konnte. Aber seine Wohnung in Nashville war klein, nur fünf Zimmer. Dort würde sie ihm nicht entkommen können.
Wie als Reaktion auf ihre Gedanken – peng – knallte es hinter ihr. Sie schrak zusammen und fuhr sich mit der Hand an den Hals. Eins der Schiebefenster war heruntergerutscht, und mehrere Gegenstände (Zeitschriften, eine rote Geranie in einem Terrakottatopf) waren auf den Küchenboden gefallen. Einen gespenstischen, vakuumversiegelten Augenblick lang (Gardinen glatt, Wind verschwunden) starrte sie den zerbrochenen Blumentopf an, die schwarze Erde, die auf dem Linoleum verstreut lag, und dann hob sie den Kopf und spähte ängstlich in die vier schattendunklen Ecken der Küche. Das Leuchten des Sonnenuntergangs an der Decke war grausig und unheimlich.
»Hallo?«, flüsterte sie schließlich – was immer es für ein Geist gewesen sein mochte (freundlich oder nicht), der da durch das Fenster geweht war. Denn sie hatte das Gefühl, dass sie beobachtet wurde. Aber alles blieb still, und nach ein paar Augenblicken machte Harriet kehrt und flüchtete aus der Küche, als sei der leibhaftige Teufel hinter ihr her.
Mit einer Lesebrille aus dem Drugstore saß
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