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Der kleine Freund: Roman (German Edition)

Der kleine Freund: Roman (German Edition)

Titel: Der kleine Freund: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Donna Tartt
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Eugene still im sommerlichen Zwielicht an Gums Küchentisch. Er las eine verschmierte alte Broschüre von der Bürgerinformation des County mit dem Titel: Der heimische Garten: Obst – und Zierpflanzen . Die Hand mit dem Schlangenbiss war zwar längst nicht mehr verbunden, aber sie sah immer noch unbrauchbar aus, und die steifen Finger hielten das Heft offen wie ein Briefbeschwerer.
    Eugene war als veränderter Mensch aus dem Krankenhaus gekommen. Er hatte eine Offenbarung gehabt, während er wach lag und auf das idiotische Gelächter aus dem Fernsehen gelauscht hatte, das durch den Gang geweht war – gebohnerte Schachbrettfliesen, gerade Linien, auf weiße Flügeltüren zustrebend, die einwärts schwingend ins Endlose führten. Er hatte die Nächte hindurch gebetet, bis zum Morgengrauen, hatte zu der frostigen Harfe aus Licht an der Decke hinaufgestarrt und in der antiseptischen Luft des Todes gezittert: das Summen der Röntgengeräte, das Roboterpiepsen der Herzmonitore, die gummiquietschenden, geheimnisumwitterten Schritte der Schwestern und das qualvolle Atmen des Mannes im Nachbarbett.
    Eugenes Offenbarung war eine dreifache gewesen. Erstens: Weil er spirituell nicht bereit war, mit Schlangen zu hantieren, und die Salbung durch den Herrn nicht erfahren hatte, hatte Gott in seiner barmherzigen Gerechtigkeit zugeschlagen und ihn niedergestreckt. Zweitens: Nicht jedem auf der Welt – nicht jedem Christen, nicht jedem Gläubigen – war es zugedacht, auch ein Priester des Wortes zu sein; es war Eugenes Fehler gewesen zu glauben, dass das Amt des Predigers (für
das er in fast jeder Hinsicht ungeeignet war) die einzige Leiter sei, auf der die Rechtschaffenen in den Himmel gelangen könnten. Der Herr, so schien es, hatte andere Pläne mit ihm, hatte sie die ganze Zeit gehabt, denn Eugene war kein Redner, er hatte keine Ausbildung und kein Sprachtalent, und er fand nicht mühelos zur Harmonie mit seinen Mitmenschen. Schon das Mal in seinem Gesicht machte ihn zu einem schlechten Boten, denn die Menschen schraken zaghaft zurück vor einem so unübersehbaren Zeichen der Rache des lebendigen Gottes.
    Aber wenn Gene kein Prophet und kein Prediger des Evangeliums sein konnte – was dann? Ein Zeichen , betete er, während er wach in seinem Krankenhausbett lag, im kühlen grauen Halbdunkel ... und beim Beten wanderte sein Blick immer wieder zu einer gestreiften Vase mit roten Nelken am Bett seines Nachbarn, eines sehr großen, sehr braunen alten Mannes mit sehr runzligem Gesicht. Sein Mund klappte auf und zu wie bei einem Fisch am Angelhaken, und seine trockenen, lebkuchenbraunen Hände, aus denen schwarze Haarbüschel sprossen, zerrten und zupften, mit einer Verzweiflung, die schrecklich anzusehen war, an der fahlen Bettdecke.
    Die Blumen waren der einzige Farbtupfer im Zimmer. Als Gum im Krankenhaus gelegen hatte, war Eugene noch einmal zurückgekehrt, um durch die Tür zu seinem armen Nachbarn hineinzuschauen, mit dem er nie ein Wort gewechselt hatte. Das Bett war leer, aber die Blumen waren noch da, loderten rot auf dem Nachtschrank, als zeigten sie ihr Mitgefühl mit dem tiefen, roten Basston des Schmerzes, der in seinem gebissenen Arm pochte, und plötzlich lichtete sich der Schleier, und Eugene ward offenbart, dass die Blumen selbst das Zeichen waren, um das er gebetet hatte. Sie waren kleine, lebende Dinge, die Gott geschaffen hatte, und sie lebten wie sein Herz: zarte, schlanke Schönheiten mit Adern und Gefäßen, die Wasser aus ihrer Glasvase tranken, die ihren matten, hübschen Gewürznelkenduft auch im finstern Tal verströmten. Und da er noch über diese Dinge nachsann, hatte der Herr selbst zu Eugene gesprochen, als er so dastand in der Stille des Nachmittags, und hatte gesagt: Pflanze meine Gärten .
    Das war die dritte Offenbarung. Noch am selben Nachmittag hatte Eugene die Samenpäckchen auf der hinteren Veranda durchforstet und auf einem feuchten, dunklen Fleckchen Erde, wo bis vor kurzem auf einer schwarzen Plastikplane ein Stapel alter Traktorreifen gelagert hatte, eine Reihe Grünkohl und eine Reihe Winterrübenkohl ausgesät. In der Futtermittelhandlung hatte er außerdem zwei Rosensträucher im Sonderangebot erstanden, die er in das kümmerliche Gras vor dem Trailer seiner Großmutter pflanzte. Gum zeigte sich misstrauisch, wie es ihre Art war, als wären die Rosen ein hinterhältiger Streich auf ihre Kosten. Eugene hatte sie ein paarmal dabei ertappt, wie sie vor dem Trailer stand und die

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