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Der kleine Freund: Roman (German Edition)

Der kleine Freund: Roman (German Edition)

Titel: Der kleine Freund: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Donna Tartt
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zu sehen, und ein gliddernder, mulmiger Schreck war über ihn gekommen, als er sie wieder erkannte. Er kannte die alte Lady – sie war ihm vertraut, aber doch fern, wie etwas aus einem lange zurückliegenden Traum.
    Durch das große Fenster sah er, wie Farish an der Theke lehnte und wortreich auf eine knochige kleine Kellnerin einredete, die ihm gefiel. Vielleicht, weil sie Angst vor ihm hatten oder weil sie den Umsatz brauchten, vielleicht auch, weil sie einfach nett waren, hörten die Kellnerinnen im White Kitchen sich Farishs wilde Geschichten respektvoll an, und seine verwahrloste Erscheinung und sein blindes Auge und seine allwissenden Tiraden schienen ihnen nichts auszumachen. Wenn
er laut oder aufgeregt wurde und anfing, mit den Armen herumzufuchteln, oder seine Kaffeetasse umstieß, blieben sie ruhig und höflich. Farish seinerseits enthielt sich in ihrer Gegenwart aller unflätigen Ausdrücke, selbst wenn er besinnungslos high war, und am Valentinstag hatte er sogar einen Blumenstrauß ins Restaurant gebracht.
    Ohne seinen Bruder aus dem Auge zu lassen, stieg Danny aus und ging seitlich um das Restaurant herum und an einer Reihe von verdorrten Sträuchern entlang zur Telefonzelle. Aus dem Telefonbuch war die Hälfte der Seiten herausgerissen, aber zum Glück die letzte Hälfte, und mit einer zitternden Fingerspitze fuhr er an den Cs hinunter. Auf dem Briefkasten hatte der Name Cleve gestanden. Und richtig, hier stand es schwarz auf weiß: E. Cleve in der Margin Street.
    Und – seltsam – das ließ eine Glocke klingen. Danny stand in der erstickend heißen Telefonzelle und verdaute die Erkenntnis. Denn er hatte die alte Lady kennen gelernt, vor so langer Zeit, dass es ihm vorkam wie in einem anderen Leben. Sie war im County bekannt – weniger um ihrer selbst willen, sondern wegen ihres Vaters, der politisch ein hohes Tier gewesen war, und wegen des früheren Hauses ihrer Familie, das »Drangsal« geheißen hatte. Aber das Haus gab es längst nicht mehr, und nur noch der Name hatte überlebt. An der Interstate, nicht weit von der Gegend, wo es gestanden hatte, gab es ein Schnellrestaurant (auf dem Schild war ein Herrenhaus mit weißen Säulen zu sehen), das »Steak House Drangsal« hieß. Das Schild war noch da, aber heute war auch das Restaurant mit Brettern vernagelt und sah aus wie ein Spukhaus.
    Als Kind (in welcher Klasse, wusste er nicht mehr, die ganze Schulzeit war für ihn ein trister Nebel) war er auf einer Geburtstagsparty in »Drangsal« gewesen. Die Erinnerung daran war geblieben: riesige Zimmer, unheimlich, in Halbdunkel getaucht und historisch angehaucht, mit rostbraunen Tapeten und Kronleuchtern. Die alte Lady, der das Haus gehörte, war Robins Großmutter, und Robin war mit ihm zur Schule gegangen. Robin wohnte in der Stadt, und Danny, der oft zu Fuß durch die Straßen wanderte, wenn Farish in der Billardhalle
war, hatte ihn eines windigen Nachmittags im Herbst gesehen, als er allein vor seinem Haus spielte. Eine Zeit lang standen sie da und schauten einander an – Danny auf der Straße, Robin auf dem Rasen vor seinem Haus – wie wachsame kleine Tiere. Dann sagte Robin: »Ich finde Batman gut.«
    »Ich finde Batman auch gut«, sagte Danny. Und dann rannten sie zusammen auf dem Gehweg auf und ab und spielten, bis es dunkel wurde.
    Weil Robin die ganze Klasse zu seiner Party eingeladen hatte (er hatte aufgezeigt und um Erlaubnis gebeten, und dann war er zwischen den Reihen hin- und hergegangen und hatte jedem einzelnen Kind einen Umschlag gegeben), war es für Danny kein Problem gewesen, sich von jemandem im Auto mitnehmen zu lassen, ohne dass sein Vater oder Gum etwas davon wussten. Kinder wie Danny gaben keine Geburtstagspartys, und Dannys Vater hätte nicht gewollt, dass er hinging, selbst wenn er eingeladen war (was meistens nicht der Fall war), weil keiner seiner Jungs für so was Unnützes wie ein Geschenk Geld zum Fenster rauswerfen würde, jedenfalls nicht für den Sohn oder die Tochter irgendeines reichen Mannes. Jimmy George Ratliff hielt nichts von solchem Unfug. Ihre Großmutter argumentierte anders. Wenn Danny auf eine Party ginge, wäre er dem Gastgeber »zu Dank verpflichtet«. Warum die Einladungen der Stadtleute annehmen, die Danny (ohne Zweifel) sowieso nur einluden, um sich über seine abgelegten Kleider und seine Country-Manieren lustig zu machen? Dannys Familie war arm, sie waren »einfache Leute«. Schicke Torten und Partykleider waren nichts für sie.

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