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Der kleine Freund: Roman (German Edition)

Der kleine Freund: Roman (German Edition)

Titel: Der kleine Freund: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Donna Tartt
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auf zwei Uhr deutete. Im grellen Licht war er ein wohltuender Anblick, dieser Schatten, beruhigend und kühlend für das Auge. Dann glitt er davon und verschwand, als er sich umdrehte und auf den Turm zukam.
    Harriets Magen sackte ins Leere. Einen Augenblick später hatte sie sich wieder gefasst, wühlte nach dem Revolver, fing an, ihn mit zitternden Fingern auszuwickeln. Ganz plötzlich kam ihr ein altes Schießeisen, mit dem sie nicht umgehen konnte (sie war nicht mal sicher, dass sie es richtig geladen hatte), sehr unbedeutend vor, wenn es allein zwischen ihr und Danny Ratliff stehen sollte, zumal in einer so halsbrecherischen Lage.
    Ihr Blick hüpfte umher. Wo sollte sie Stellung beziehen? Hier? Oder auf der anderen Seite, vielleicht ein bisschen tiefer? Dann hörte sie ein Scheppern auf der metallenen Leiter.
    Verzweifelt sah sie sich um. Sie hatte in ihrem ganzen Leben noch nicht geschossen. Selbst, wenn sie ihn träfe, würde er nicht auf der Stelle umfallen, und das morsche Dach bot keinen Platz zum Rückzug.
    Klank ... klank ... klank...
    Harriet – einen Moment lang spürte sie körperlich das Grauen, gepackt und über die Kante geschleudert zu werden – kam taumelnd auf die Beine, aber gerade als sie sich mitsamt ihrem Revolver durch die Luke ins Wasser stürzen wollte, ließ etwas sie innehalten. Mit den Armen fuchtelnd, bäumte sie sich auf und fand das Gleichgewicht wieder. Der Tank war eine Falle. Es wäre schlimm genug, ihm von Angesicht zu Angesicht im hellen Sonnenlicht gegenüberzustehen, aber da unten hätte sie keine Chance mehr.
    Klank ... klank ...
    Der Revolver war schwer und kalt. Unbeholfen hielt sie ihn umklammert und kroch seitwärts auf dem Dach herunter, und dann drehte sie sich auf dem Bauch herum, hielt die Waffe mit beiden Händen fest und robbte auf den Ellenbogen vorwärts, so weit es ging, ohne den Kopf über die Kante des Tanks hinauszuschieben. Ihr Gesichtsfeld war schmal und dunkel, zu einem einzelnen Augenschlitz zusammengeschrumpft wie das Visier eines Ritterhelms, und sie merkte plötzlich, dass sie seltsam unbeteiligt hindurchspähte und dass alles fern und unwirklich erschien. Nur eins war noch da, nämlich das schneidende, verzweifelte Verlangen, ihr Leben wie ein Knallfrosch zu versprühen – in einer einzigen Explosion, mitten in Danny Ratliffs Gesicht.
    Klank ... klank ...
    Sie schob sich weiter nach vorn, gerade noch weit genug, um über den Rand zu schauen. Der Revolver zitterte in ihren Händen. Noch ein kleines Stück, und sie sah seinen Scheitel ungefähr fünf Meter weit unter sich.
    Sieh nicht hoch, dachte Harriet verzweifelt. Sie stützte sich auf die Ellenbogen, hob den Revolver genau vor ihren Nasenrücken, spähte am Lauf entlang und hielt ihn so gerade, wie sie nur konnte. Dann schloss sie die Augen und drückte ab.
    Peng. Der Kolben schlug ihr mit lautem Krachen vor die Nase, und sie schrie auf, rollte sich auf den Rücken und packte ihre Nase mit beiden Händen. Ein Schauer von orangegelben Funken sprühte in der Dunkelheit hinter ihren Lidern empor. Irgendwo weit hinten in ihrer Wahrnehmung hörte sie, wie der Revolver klappernd hinunterfiel; er traf die Sprossen der Leiter mit hohlem, metallischem Scheppern, das sich anhörte, wie wenn jemand mit einem Stock über ein Eisengitter im Zoo strich. Aber der Schmerz in ihrer Nase war so wütend und grell wie nichts anderes, das sie je erlebt hatte, und Blut strömte zwischen ihren Fingern hervor, heiß und glitschig. Überall an ihren Händen war Blut, und sie schmeckte es im Mund, und als sie ihre roten Finger anschaute, konnte sie sich
einen Moment lang nicht erinnern, wo sie war oder warum sie hier war.

    Bei dem Knall erschrak Danny so heftig, dass er beinahe den Halt verloren hätte. Etwas klirrte schwer auf die Sprosse über ihm, und im nächsten Augenblick bekam er einen harten Schlag auf den Kopf.
    Im ersten Moment glaubte er zu fallen, und er wusste nicht, wonach er greifen sollte, aber dann – mit einem traumartigen Ruck – erkannte er, dass er sich immer noch mit beiden Händen an der Leiter festklammerte. Schmerz breitete sich in großen, flachen Wellen von seinem Scheitel her aus, als habe eine Uhr geschlagen, Wellen, die mitten in der Luft hängen blieben und sich nur langsam auflösten.
    Er hatte gespürt, dass etwas an ihm vorbei nach unten gefallen war, und er glaubte auch gehört zu haben, wie es unten auf dem Kies landete. Er berührte seine Kopfhaut – da schwoll eine

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