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Der kleine Freund: Roman (German Edition)

Der kleine Freund: Roman (German Edition)

Titel: Der kleine Freund: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Donna Tartt
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stillgelegten Bahnstrecke vor einem Auto mit einer Leiche stand? Nein, diese Leute schwirrten bloß dauernd in Los Angeles und Hollywood rum, in weißen Anzügen mit glitzernden Pailletten und mit Sonnenbrillen, die oben dunkel und unten klar waren, und sie tranken Champagner und schnupften ihr Koks von silbernen Tabletts. Sie kamen nie auf die Idee – wenn sie im Studio neben ihrem Flügel standen mit ihren Glitzerschals und ihren schicken Cocktails –, nie kamen sie auf die Idee, dass irgendein armer Mensch in Mississippi auf einer Schotterstraße stehen und ein paar größere Probleme zu lösen haben würde, während im Radio lief: on the day that you were born the angels got together...
    Er tat einen Schritt auf den Wagen zu, einen Schritt. Seine Knie zitterten; das Knirschen des Schotters unter seinen Sohlen erschreckte ihn. Jetzt mach schon!, befahl er sich mit hochfliegender Hysterie und sah sich gehetzt um (nach links, nach rechts, zum Himmel), und dabei streckte er die Hand aus, um sich zu stützen, sollte er fallen. Steh nicht dämlich rum! Was er zu tun hatte, war klar; die Frage war nur, wie, denn es führte kein Weg um die Tatsache herum, dass er prinzipiell lieber zur Säge greifen und sich den Arm absägen würde, ehe er die Leiche seines Bruders anrührte.
    Auf der Ablage am Armaturenbrett lag die schmutzige Hand seines Bruders: nikotingelbe Finger, der dicke goldene Ring am kleinen Finger, geformt wie ein Spielwürfel. Danny starrte ihn an und versuchte, sich wieder in seine Lage hineinzudenken. Was er nötig hatte, war eine Nase: Er musste sich konzentrieren und seinen Mumm wieder finden. Oben im Wasserturm war reichlich Stoff, jede Menge Stoff, und je länger er herumstand, desto länger würde auch der TransAm hier im Unkraut stehen, mit einem toten Mann und zwei Schäferhundkadavern, die auf die Sitze bluteten.

    Harriet klammerte sich mit beiden Fäusten am Geländer fest und lag auf dem Bauch, atemlos vor Angst. Weil ihre Füße höher
als der Kopf lagen, war ihr das Blut ins Gesicht geströmt, und der Herzschlag dröhnte in ihren Schläfen. Das Schreien im Auto hatte aufgehört, dieses scharfe, schrille Tiergeheul, das anscheinend überhaupt nicht hatte aufhören wollen, aber selbst die Stille wirkte jetzt gedehnt und unförmig verzerrt von diesen unirdischen Schreien.
    Er stand immer noch da, Danny Ratliff, da unten auf dem Boden. Sehr klein sah er aus in dieser flachen, friedlichen Ferne. Alles war still wie ein Bild. Jeder Grashalm, jedes Blatt an jedem Baum war wie gekämmt und geölt und ordentlich glatt gestrichen.
    Harriets Ellenbogen waren wund. Sie verlagerte ihr Gewicht in dieser anstrengenden Lage ein wenig. Was sie da gesehen hatte, wusste sie nicht genau – es war zu weit weg –, aber die Schüsse und die Schreie hatte sie deutlich genug gehört, und der Nachklang gellte immer noch in ihren Ohren: schrill, brühheiß, unerträglich. Im Wagen bewegte sich nichts mehr; seine Opfer (dunkle Umrisse, mehr als einer, schien es) lagen still.
    Plötzlich drehte er sich um, und Harriets Herz krampfte sich schmerzhaft zusammen. Bitte, lieber Gott, betete sie, bitte, lieber Gott, lass ihn nicht hier heraufkommen ...
    Aber er ging auf den Waldrand zu, und nach einem kurzen Blick zurück bückte er sich rasch. Ein gelblich-weißer Hautstreifen, der überhaupt nicht zu der dunklen Bräune seiner Arme passen wollte, erschien in der Lücke zwischen dem T-Shirt und dem Bund seiner Jeans. Er ließ das Magazin aus der Pistole rasten und untersuchte es, richtete sich auf und wischte die Waffe an seinem Hemd ab, und dann schleuderte er sie in den Wald, und der Schatten der Pistole flog dunkel über den grasbewachsenen Boden.
    Harriet beobachtete das alles über ihren Unterarm hinweg und widerstand dem starken Drang wegzuschauen. Obwohl sie verzweifelt darauf brannte herauszufinden, was er da tat, erforderte es eine sonderbare Anstrengung, den Blick derart konzentriert auf immer denselben hellen, fernen Punkt zu richten, und sie musste den Kopf schütteln, um eine Art Nebel
zu vertreiben, der ab und an durch ihr Gesichtsfeld kroch, ganz wie die Dunkelheit, die sich über die Zahlen auf der Schultafel schob, wenn sie allzu angestrengt hinschaute.
    Nach einer Weile ging er zu seinem Wagen zurück. Dort blieb er stehen und wandte ihr die verschwitzten Rückenmuskeln zu, den Kopf leicht gesenkt, die Arme starr an der Seite. Sein Schatten lag gestreckt auf dem Schotter, eine schwarze Planke, die

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