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Der kleine Freund: Roman (German Edition)

Der kleine Freund: Roman (German Edition)

Titel: Der kleine Freund: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Donna Tartt
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deiner Tür?«
    »Hely, kannst du etwas für mich tun?«, fragte sie.
    »Na klar«, sagte er plötzlich ganz ernst und wachsam.
    Harriet behielt die Tür im Auge. »Versprich es.« Obwohl sie halb flüsterte, hallte ihre Stimme in der frostigen Stille weiter, als ihr lieb war, über Kunststoff und glatte Fliesen.
    »Was? Ich versteh dich nicht!
    »Du musst es mir versprechen.«
    »Harriet, komm schon, sag, was es ist!«
    »Am Wasserturm.« Harriet holte tief Luft, denn es gab keine andere Möglichkeit, es zu sagen, als es einfach frei auszusprechen. »Da liegt ein Revolver auf dem Boden. Du musst hingehen ...«
    »Ein Revolver?«
    »... ihn holen und wegwerfen«, sagte sie ohne Hoffnung. Wieso sollte sie sich die Mühe machen, gedämpft zu sprechen? Wer wusste schon, wer alles zuhörte, an seinem Ende oder an ihrem? Eben war eine Schwester an der Tür vorbeigegangen; jetzt kam wieder eine und warf im Vorbeigehen einen neugierigen Blick herein.
    »Himmel, Harriet!«
    »Hely, ich kann nicht.« Sie hätte am liebsten geweint.
    »Aber ich hab Bläserprobe. Und wir müssen heute länger bleiben.«
    Bläserprobe. Harriet verlor allen Mut. Wie sollte das jemals klappen?
    »Oder«, sagte Hely, »oder ich könnte jetzt gehen. Wenn ich mich beeile... Mom fährt mich in ’ner halben Stunde.«
    Harriet lächelte der Schwester, die den Kopf zur Tür hereinstreckte, matt zu. Was sollte das alles überhaupt? Ließe sie den Revolver ihres Vaters auf dem Boden liegen, würde die Polizei ihn finden, und wenn Hely ihn holte, wüsste am Nachmittag die ganze Blaskapelle Bescheid.
    »Was soll ich damit machen?«, fragte Hely. »Soll ich ihn bei dir im Garten verstecken?«
    »Nein«, sagte Harriet mit solcher Schärfe, dass die Schwester die Brauen hochzog. »Wirf ihn in...«, mein Gott, dachte sie und schloss die Augen, nun sag’s schon  ..., »wirf ihn in ...«
    »In den Fluss?«, schlug Hely hilfsbereit vor.
    »Genau.« Harriet rutschte zur Seite, als die Schwester (eine massige, viereckige Frau mit steifem grauem Haar und großen Händen) um sie herumgriff, um das Kissen aufzuschütteln.
    »Und wenn er nicht untergeht?«
    Es dauerte einen Moment, bis sie diese Frage begriffen hatte. Hely wiederholte sie, während die Krankenschwester Harriets Krankenblatt vom Fußende des Bettes nahm und mit schwerfälligem Seemannsgang hinausging.
    »Er ist... aus Metall«, sagte Harriet.
    Hely, erkannte sie erschrocken, sprach mit jemandem am anderen Ende.
    Aber sofort war er wieder da. »Okay! Muss los!««
    Klick. Harriet hielt sich den toten Hörer ans Ohr und saß wie betäubt da, bis das Freizeichen wieder einsetzte. Angstvoll (nicht einen Moment lang hatte sie die Tür aus den Augen gelassen) legte sie den Hörer auf die Gabel, und dann ließ sie sich in die Kissen zurücksinken und schaute sich furchtsam im Zimmer um.
     
    Die Stunden schleppten sich endlos dahin, weiß auf weiß. Harriet hatte nichts zu lesen, und obwohl sie schreckliche Kopfschmerzen hatte, wagte sie nicht zu schlafen. Mr. Dial hatte ihr eine Sonntagsschul-Broschüre dagelassen; sie hieß »Schürzenband-Andachten«, und auf dem Umschlag war ein rosiges Baby mit einem altmodischen Sonnenhut, das einen Blumenwagen schob. In ihrer Verzweiflung nahm sie es schließlich in
die Hand. Es war für Mütter mit Kleinkindern gedacht, und innerhalb weniger Augenblicke war Harriet angewidert.
    Trotzdem las sie das ganze Ding von der ersten bis zur letzten dünnen Umschlagseite, und dann saß sie da. Und saß da. Es gab keine Uhr im Zimmer, keine Bilder, die sie anschauen konnte – nichts, was ihre Gedanken und Befürchtungen daran hindern konnte, sich kläglich umeinander zu drehen, nichts außer dem Schmerz, der immer wieder in Wellen durch ihren Leib schoss. Wenn er davongerollt war, lag sie da wie gestrandet und schnappte nach Luft, für den Augenblick sauber durchgespült, aber schon bald setzten die nagenden Sorgen mit neuer Energie wieder ein. Hely hatte ihr eigentlich überhaupt nichts versprochen. Wer konnte schon sagen, ob er den Revolver holen würde oder nicht? Und selbst wenn er ihn holte  – würde er genug Verstand besitzen, um ihn auch wegzuwerfen? Hely bei der Bläserprobe, wie er den Revolver ihres Vaters herumzeigte: »Hey, Dave, sieh mal hier!« Sie verzog schmerzlich das Gesicht und presste den Kopf tief ins Kissen. Der Revolver ihres Vaters. Voll von ihren Fingerabdrücken. Und Hely, der größte Quasselkopf der Welt. Aber wen außer Hely hätte sie um Hilfe

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