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Der kleine Freund: Roman (German Edition)

Der kleine Freund: Roman (German Edition)

Titel: Der kleine Freund: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Donna Tartt
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Unheimliches. »Man muss ja keinen Lärm machen oder?«
    Harriet hätte gern Lärm gemacht, jede Menge Lärm. Starr vor Angst und Verwirrung schaute sie ihn an.
    »Ich weiß, wer du bist.« Sein Mund bewegte sich beim Sprechen fast nicht. »Du warst an dem Abend in der Mission.«
    Harriet richtete den Blick hinüber zur leeren Tür. Schmerz durchzuckte ihre Schläfen wie elektrischer Strom.
    Der Prediger zog die Stirn kraus und beugte sich tiefer. »Du warst bei den Schlangen. Ich glaube, du warst es, die sie rausgelassen hat, nicht?«, fragte er mit seiner eigenartigen, hohen Stimme. Seine Pomade roch nach Flieder. »Und du hast meinen Bruder Danny verfolgt, nicht?«
    Harriet starrte ihn an. Wusste er über den Turm Bescheid?
    »Wieso bist du im Flur vor mir weggerannt?«
    Er wusste es nicht. Harriet achtete darauf, dass sie sich
nicht bewegte. In der Schule konnte niemand sie besiegen, wenn es darum ging, wer zuerst wegschaute. Dumpfe Glocken dröhnten in ihrem Kopf. Sie war nicht gesund; sie wünschte, sie könnte sich die Augen reiben und den Morgen noch einmal beginnen. Irgendetwas an der Stellung ihres Gesichts im Verhältnis zu dem des Predigers leuchtete nicht ein; es war, als sei er ein Spiegelbild, dass sie aus einem anderen Winkel hätte sehen müssen.
    Der Prediger blinzelte sie an. »Du bist ein freches kleines Stück«, sagte er, »frech wie Dreck.«
    Harriet fühlte sich matt und schwindlig. Er weiß es nicht, ermahnte sie sich erbittert, er weiß es nicht. Neben ihrem Bett war ein Knopf, mit dem sie die Schwester rufen konnte, und sie hatte das dringende Bedürfnis, den Kopf zu drehen und hinzuschauen, aber sie zwang sich, still liegen zu bleiben.
    Er beobachtete sie aufmerksam. Das Weiß des Zimmers hinter ihm verlor sich in luftigen Fernen, in einer Leere, die auf ihre Art genauso Übelkeit erregend war wie dunkle Enge im Wassertank.
    »Hör mal«, sagte er und beugte sich wieder tiefer. »Wovor hast du solche Angst? Niemand hat dich angerührt.«
    Starr und ohne mit der Wimper zu zucken, schaute Harriet ihm ins Gesicht.
    »Vielleicht hast du was getan, dass du jetzt Angst haben musst, ja? Ich will wissen, was du da zu suchen hattest, als du um mein Haus rumgeschlichen bist. Und wenn du’s mir nicht sagst, werde ich es aus dir rausholen.«
    »Poch poch!«, rief eine fröhliche Stimme von der Tür her.
    Hastig richtete der Prediger sich auf und fuhr herum. Winkend in der Tür stand Roy Dial mit ein paar Sonntagsschul-Broschüren und einer Schachtel Pralinen.
    »Ich hoffe, ich störe nicht.« Furchtlos kam Mr. Dial hereinmarschiert. Er trug Freizeitkleidung, nicht Anzug und Krawatte wie in der Sonntagsschule. Sehr sportlich sah er aus mit seinen Segelschuhen und der Khakihose; ein Hauch von Florida und Sea World umgab ihn. »Ja, Eugene ! Was machen Sie denn hier?«
    »Mr. Dial!« Der Prediger sprang auf ihn zu und hielt ihm die Hand entgegen.
    Sein Ton hatte sich verändert, war aufgeladen mit einer ganz neuen Art von Energie, und trotz Krankheit und Angst entging es Harriet nicht. Er hat Angst, dachte sie.
    »Ah, ja.« Mr. Dial schaute Eugene an. »Ist nicht gestern ein Ratliff eingeliefert worden? In der Zeitung stand ...«
    »Ja, Sir! Mein Bruder Farsh. Er...« Eugene unternahm einen erkennbaren Versuch, sich zu bremsen. »Ja, man hat auf ihn geschossen, Sir.«
    Geschossen? , dachte Harriet benommen.
    »In den Hals geschossen, Sir. Sie haben ihn gestern Abend gefunden. Er...«
    »Ja, du meine Güte!«, rief Mr. Dial fröhlich und bog sich mit einer Drolligkeit zurück, die erkennen ließ, wie wenig es ihn interessierte, von Eugenes Familie zu hören. »Du liebe Güte! Das finde ich aber abscheulich! Da werde ich aber ganz bestimmt vorbeikommen und ihn besuchen, wenn es ihm wieder besser geht! Ich...«
    Mr. Dial gab Eugene keine Gelegenheit, ihm zu erklären, dass es Farish nicht mehr besser gehen würde, sondern warf die Hände in die Höhe, als wolle er sagen: Was soll man machen?, und legte dann die Schachtel Pralinen auf den Nachttisch. »Die sind leider nicht für dich, Harriet«, sagte er und beugte sich mit seinem Delphinprofil vertraulich vor, um sie mit dem linken Auge anzuzwinkern. »Ich wollte vor der Arbeit rasch einen Besuch bei der lieben Agnes Upchurch machen« (Miss Upchurch war eine klapprige alte, invalide Baptistin, eine Bankierswitwe, die hoch oben auf Mr. Dials Kandidatenliste für den Baufonds stand), »und wem laufe ich da unten über den Weg? Ausgerechnet deiner

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