Der kleine Freund: Roman (German Edition)
Schock gewesen zu sehen, wie es jetzt im Haus aussah. Dreckig: Ein anderes Wort gab es nicht. Kein Wunder, dass das Kind krank war, wenn überall Müll und Abfall herumlag; es war eher ein Wunder, dass sie nicht alle drei im Krankenhaus lagen. Edie zog den Reißverschluss auf dem Rücken ihres Kleides hoch und biss sich innen auf die Wange. Schmutziges Geschirr, Stapel, ja, Türme von Zeitungen, die mit Sicherheit Ungeziefer anlockten. Und das Schlimmste war der Geruch. Alle möglichen unangenehmen Szenarien waren Edie durch den Kopf gegangen, als sie sich auf der klumpigen Krankenhausliege schlaflos hin und her gewälzt hatte. Das Kind konnte sich vergiftet oder eine Hepatitis zugezogen haben; vielleicht war sie im Schlaf von einer Ratte gebissen worden. Edie war so entsetzt und beschämt gewesen, dass sie einem fremden Arzt solche Vermutungen nicht hatte anvertrauen können – und sie war es noch immer, auch im kalten Licht des Morgens. Was sollte man aber auch sagen? Ach, übrigens, Doktor, meine Tochter führt einen völlig verdreckten Haushalt?
Es würden Kakerlaken da sein und Schlimmeres. Irgendetwas musste geschehen, bevor Grace Fountain oder irgendeine
andere naseweise Nachbarin die Gesundheitsbehörde anrief. Charlotte zur Rede zu stellen würde nichts erbringen außer Ausreden und Tränen. Sich an den ehebrecherischen Dix zu wenden wäre riskant, denn wenn es zur Scheidung käme (und das war möglich), würde diese Verwahrlosung vor Gericht für ihn von Vorteil sein. Warum um alles in der Welt hatte Charlotte die Farbige nur gehen lassen?
Edie steckte sich das Haar zurück, nahm zwei Aspirin mit einem Glas Wasser (nach dieser Nacht auf der Pritsche taten ihr die Rippen mächtig weh) und trat wieder hinaus ins Zimmer. Alle Wege führen ins Krankenhaus , dachte sie. Seit Libbys Tod war sie jede Nacht im Traum ins Krankenhaus zurückgekehrt – war durch die Gänge geirrt, mit dem Aufzug auf- und abgefahren, hatte nach Etagen und Zimmernummern gesucht, die nicht existierten –, und jetzt war es Tag, und sie war schon wieder hier, in einem Zimmer, das große Ähnlichkeit mit dem hatte, in dem Libby gestorben war.
Harriet schlief noch, und das war gut so. Der Arzt hatte gesagt, sie würde einen großen Teil des Tages verschlafen. Nach dem Steuerberater, bei dem sie einen weiteren Vormittag damit verschwenden würde, über Richter Cleves (praktisch in Geheimschrift verfassten) Büchern zu brüten, musste sie zum Anwalt. Er drängte sie, sich mit diesem grässlichen Mr. Rixey zu einigen. Nur würde sie nach dem »vernünftigen Kompromiss«, den er vorschlug, so gut wie mittellos dastehen. Gedankenverloren (Mr. Rixey hatte den »vernünftigen Kompromiss« noch nicht einmal akzeptiert; sie würde heute erfahren, ob er es inzwischen getan hatte) warf Edie noch einen letzten Blick in den Spiegel, nahm ihre Handtasche und verließ das Zimmer. Den Prediger, der am Ende des Korridors lungerte, bemerkte sie nicht.
Die Bettlaken fühlten sich köstlich kühl an. Harriet lag mit fest geschlossenen Augen im Morgenlicht. Sie hatte von steinernen Stufen auf einem hellen, grasbewachsenen Feld geträumt, von Stufen, die nirgendwohin führten, Stufen, die so
alt und bröckelig waren, dass sie ebenso gut Felsblöcke hätten sein können, die umgestürzt und in der summenden Wiese versunken waren. Die Infusionsnadel in ihrer Ellenbeuge war ein hässliches Ziepen, silbern und kalt, und verschlungene Apparaturen wanden sich daraus hervor und durch die Zimmerdecke hinauf in den weißen Himmel des Traums.
Ein paar Minuten schwebte sie zwischen Schlafen und Wachen. Schritte hallten über den Flur (kalte Korridore, mit Echos wie in einem Palast), und sie blieb ganz still liegen und hoffte, irgendeine freundliche, dienstlich befugte Person werde herüberkommen und Notiz von ihr nehmen: Harriet so klein, Harriet so blass und krank.
Die Schritte näherten sich dem Bett und hörten auf. Harriet spürte, dass jemand sich über sie beugte. Still blieb sie liegen, mit flatternden Lidern, und ließ sich betrachten. Dann öffnete sie die Augen und fuhr entsetzt zusammen, als sie den Prediger erblickte. Sein Gesicht war nur eine Handbreit von ihrem entfernt. Seine Narbe leuchtete rot wie der Kehllappen eines Truthahns, und unter dem zerschmolzenen Gewebe über dem Stirnbein glänzte sein Auge feucht und wild.
»Ganz leise«, sagte er und legte den Kopf schräg wie ein Papagei. Der hohe, singende Klang seiner Stimme hatte etwas
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