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Der kleine Freund: Roman (German Edition)

Der kleine Freund: Roman (German Edition)

Titel: Der kleine Freund: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Donna Tartt
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weg – aber hatte Hely Verstand genug, um den Leuten aus dem Weg zu gehen, wenn er sie sah? Und würde er überhaupt in der Lage sein, sich dem Turm zu nähern? Da waren die Lagerschuppen, schön; sie waren weniger weit von dem Wagen entfernt, und wahrscheinlich würden sie sich dort zuerst umsehen. Aber irgendwann würden sie auch bis zum Turm kommen, oder? Sie verfluchte sich dafür, dass sie ihn nicht gewarnt hatte. Wenn dort viele Leute wären, würde ihm nichts anderes übrig bleiben, als kehrtzumachen und wieder nach Hause zu gehen.
    Am späten Vormittag riss der Arzt sie aus ihren Sorgen. Es war Harriets Hausarzt, der auch kam, wenn sie einen roten Rachen oder eine Mandelentzündung hatte, aber Harriet mochte ihn nicht besonders. Er war jung und hatte ein schweres, düsteres Gesicht und vorzeitige Hängebacken; seine Miene war steif, sein Benehmen kühl und sarkastisch. Er hieß Dr. Breedlove, aber Edie hatte ihm – teils wegen seiner hohen Honorare – den Spitznamen »Dr. Gierig« gegeben. Seine Unfreundlichkeit, hieß es, hatte verhindert, dass er einen erstrebenswerteren Posten in einer anderen Stadt bekommen hatte. Aber er war so kurz angebunden, dass Harriet nicht das Gefühl hatte, sie müsse eine falsche Fassade von lächelnder Vertraulichkeit aufrechterhalten, wie sie es bei den meisten anderen Erwachsenen tat, und aus diesem Grund respektierte sie ihn zähneknirschend trotz seiner Fehler.
    Dr. Gierig umkreiste ihr Bett, und wie zwei feindselige Katzen vermieden er und Harriet es, einander in die Augen zu sehen. Er musterte sie kühl und warf einen Blick auf das Krankenblatt. Dann wollte er wissen: »Isst du viel Salat?«
    »Ja«, sagte Harriet, obwohl es nicht stimmte.
    »Wässerst du ihn vorher in Salzwasser?«
    »Nein«, sagte Harriet, als sie sah, dass er diese Antwort von ihr erwartete.
    Er murmelte etwas von Dysenterie und ungewaschenen Salaten aus Mexiko, und nach kurzem Grübeln hängte er die Tafel mit dem Krankenblatt geräuschvoll scheppernd wieder ans Fußende, wandte sich ab und ging.
    Plötzlich klingelte das Telefon. Ohne auf die IV-Nadel in ihrem Arm zu achten, grabschte Harriet nach dem Hörer, ehe das erste Klingeln vorbei war.
    »Hey!« Es war Hely. Im Hintergrund Echos wie in der Turnhalle. Das High-School-Orchester probte auf Klappstühlen auf dem Basketball-Spielfeld. Harriet hörte einen ganzen Zoo von Stimmklängen: Hupen und Zirpen, quiekende Klarinetten und trötende Trompeten.
    »Warte«, sagte Harriet, als er ohne Unterbrechung weiterreden wollte, »nein, warte einen Moment.« Bei dem Münztelefon
in der Turnhalle herrschte viel Betrieb, und es war nicht der richtige Ort für ein vertrauliches Gespräch. »Sag nur ja oder nein. Hast du ihn geholt?«
    »Jawohl, Sir.« Er sprach mit einer Stimme, die nicht wie James Bond klang, aber Harriet erkannte sie als seine James-Bond-Stimme. »Ich habe die Waffe beschafft.«
    »Hast du sie weggeworfen, wie ich es dir gesagt hab?«
    »Q«, krähte Hely, »hab ich Sie je im Stich gelassen?«
    In der kurzen, säuerlichen Pause, die darauf folgte, hörte Harriet Geräusche im Hintergrund, ein Schieben und Tuscheln.
    »Hely«, sagte sie und setzte sich aufrecht hin, »wer ist da bei dir?«
    »Niemand«, sagte Hely ein bisschen zu schnell. Aber sie hörte das Holpern in seiner Stimme, als ob er irgendjemanden mit dem Ellenbogen anstieße.
    Geflüster. Jemand kicherte: ein Mädchen. Wut durchzuckte Harriet wie ein Stromschlag.
    »Hely«, sagte sie, »es wäre wirklich besser, wenn da niemand bei dir wäre, denn – nein«, sagte sie über Helys Beteuerung hinweg, »hör mirjetzt zu. Denn ...«
    »Hey!« Lachte er etwa. »Was ist los mit dir?«
    »Denn«, sagte Harriet so laut, wie sie es wagen konnte, »deine Fingerabdrücke sind auf dem Revolver.«
    Abgesehen von der Kapelle und dem Knuffen und Wispern der Kids im Hintergrund war am anderen Ende kein Laut zu hören.
    »Hely?«
    Als er schließlich sprach, klang seine Stimme brüchig und fern. »Ich... hau ab !«, sagte er erbost zu irgendeinem anonymen Kicherer im Hintergrund. Ein kurzes Geschubse, und der Hörer schlug gegen die Wand. Dann war Hely wieder da.
    »Warte mal kurz, ja?«, sagte er.
    Peng machte der Hörer noch einmal. Harriet lauschte. Aufgeregtes Getuschel.
    »Nein, du  ...« sagte jemand.
    Neues Geschubse. Harriet wartete. Schritte, die sich entfernten,
rennend; jemand rief etwas Unverständliches. Als Hely wieder an den Apparat kam, war er außer Atem.
    »Mann«,

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