Der kleine Freund: Roman (German Edition)
bitten können? Niemanden. Niemanden.
Nach einer ganzen Weile kam die Schwester wieder hereingewalzt (ihre dicksohligen Schuhe waren an den Rändern ganz abgelaufen), um Harriet eine Spritze zu geben. Harriet rollte den Kopf hin und her und sprach mit sich selbst; sie hatte Mühe, sich aus ihren Sorgen zu lösen, und musste sich anstrengen, um ihre Aufmerksamkeit der Krankenschwester zuzuwenden. Die Schwester hatte ein fideles, wettergegerbtes Gesicht mit runzligen Wangen, dicke Beine und einen schrägen, wiegenden Gang. Wenn die Schwesterntracht nicht gewesen wäre, hätte sie der Kapitän eines Segelschiffs sein können, der seine Decks abschritt. Auf ihrem Namensschild stand GLADYS COOTS.
»Ich mache, so schnell ich kann«, sagte sie eben.
Harriet war zu erschöpft und zu besorgt, um den üblichen Widerstand zu leisten. Sie drehte sich auf den Bauch und zog eine Grimasse, als die Nadel sich in ihre Hüfte schob. Sie hasste
Spritzen, und als sie kleiner war, hatte sie geschrien und geweint und versucht wegzulaufen, und zwar in einem solchen Maße, dass Edie (die Injektionen geben konnte) in der Arztpraxis ein paar Mal ungeduldig die Ärmel aufgekrempelt und ihr die Spritze eigenhändig verpasst hatte.
»Wo ist meine Großmutter?«, fragte sie, während sie sich wieder umdrehte und die Einstichstelle an ihrem Hintern rieb.
»Allmächtiger! Hat dir niemand etwas gesagt?«
»Was denn?«, rief Harriet und krabbelte im Bett rückwärts wie ein Krebs gegen das Kopfende. »Was ist passiert? Wo ist sie?«
»Sschh. Beruhige dich!« Tatkräftig begann die Schwester, die Kissen aufzuschütteln. »Sie musste für’ne Weile in die Stadt, das ist alles. Das ist alles!«, wiederholte sie, als Harriet sie zweifelnd anschaute. »Jetzt leg dich wieder hin, und mach’s dir bequem.«
In ihrem ganzen Leben würde Harriet niemals, niemals wieder einen so langen Tag erleben. Der Schmerz pulsierte und flitterte erbarmungslos in ihren Schläfen, und ein Parallelogramm aus Sonnenlicht schimmerte bewegungslos an der Wand. Schwester Coots, die mit der Bettpfanne ein und aus wogte, war eine Rarität: ein weißer Elefant, der – großartig angekündigt – etwa alle hundert Jahre wiederkehrte. Im Laufe des endlosen Vormittags nahm sie Blut ab, gab Harriet Augentropfen, brachte ihr Eiswasser, Ginger Ale, einen Teller grüne Gelatine, die Harriet kostete und beiseite schob, und das Besteck klapperte aufdringlich auf ihrem bunten Plastiktablett.
Aufrecht saß sie im Bett und lauschte bang. Durch den Korridor zog sich ein Netz von ruhigen Echos: Stimmen aus dem Stationszimmer, gelegentliches Lachen, das Tappen von Krücken und das Scharren von Gehhilfen, mit denen graue Rekonvaleszenten aus der Physiotherapie über den Gang schlurften. Ab und zu ertönte eine weibliche Lautsprecherstimme und verkündete Reihen von Zahlen oder obskure Befehle: Carla, bitte in den Flur, ein Pfleger nach zwei, ein Pfleger nach zwei...
Als ob sie etwas addierte, zählte Harriet an den Fingern ab, was sie wusste. Sie murmelte vor sich hin, und es kümmerte sie nicht, dass sie dabei aussah wie eine Verrückte. Der Prediger wusste nichts vom Wasserturm. Nichts von dem, was er gesagt hatte, deutete darauf hin, dass er wusste, dass Danny dort oben war (oder dass er tot war). Aber das alles könnte sich ändern, wenn der Arzt herausfände, dass Harriets Erkrankung von verdorbenem Wasser herrührte. Der TransAm parkte weit genug weg vom Turm, sodass wahrscheinlich niemand auf die Idee gekommen war, sich dort oben umzusehen – und wer weiß, wenn sie es nicht schon getan hatten, würden sie es vielleicht auch nicht tun.
Aber vielleicht doch. Und dann lag da der Revolver ihres Vaters. Warum hatte sie ihn nicht aufgehoben, wie hatte sie es vergessen können? Natürlich hatte sie damit auf niemanden tatsächlich geschossen, aber die Waffe war abgefeuert worden, das würden sie sehen, und der Umstand, dass sie am Fuße des Turmes lag, wäre Grund genug, dass jemand hinaufstieg und hinein schaute.
Und Hely. All seine fröhlichen Fragen: ob sie verhaftet war, ob ein Polizist vor der Tür stand. Für Hely wäre es ungeheuer unterhaltsam, wenn sie tatsächlich verhaftet würde. Kein tröstlicher Gedanke.
Dann kam ihr ein schrecklicher Einfall. Was wäre, wenn die Polizei den TransAm beobachtete? War der Wagen nicht ein Tatort wie im Fernsehen? Würden da nicht Cops und Fotografen stehen und Wache halten? Sicher, der Wagen parkte ein gutes Stück weit vom Turm
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