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Der kleine Freund: Roman (German Edition)

Der kleine Freund: Roman (German Edition)

Titel: Der kleine Freund: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Donna Tartt
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kühlen Hallen der Ersten Baptistengemeinde transportierte. Mit schmutzigen Gesichtern, verstohlenen Mienen, in für die Kirche unpassenden Kleidern, fixierten sie gesenkten Blickes den Fußboden. Nur der riesenhafte Curtis Ratliff, der zurückgeblieben und ein paar Jahre älter als die andern war, glotzte Mr. Dial mit offenem Mund dankbar an.
    »Oder nehmen wir ein anderes Beispiel«, sagte Mr. Dial. »Was ist mit Johannes dem Täufer? Warum war er so entschlossen, in die Wildnis zu gehen und den Weg für die Ankunft Christi zu bereiten?«
    Es war sinnlos zu versuchen, diese kleinen Ratliffs und Scurlees und Odums zu erreichen, diese Bengel mit ihren verklebten Augen und verkniffenen Gesichtern, ihren Klebstoff schnüffelnden Müttern, ihren tätowierten, hurenden Vätern. Sie waren erbärmlich. Erst am Tag zuvor war Mr. Dial gezwungen gewesen, seinen Schwiegersohn Ralph – den er bei Dial Chevrolet beschäftigte  – zu irgendwelchen Scurlees hinunterzuschicken, um einen neuen Oldsmobile Cutlass zurückzuholen. Es war eine uralte Geschichte: Diese jämmerlichen Hunde fuhren mit Oberklasseautos
durch die Gegend, kauten Tabak und tranken Bier aus der Flasche, und dabei war ihnen egal, dass sie mit den Ratenzahlungen sechs Monate im Rückstand waren. Ein anderer Scurlee und zwei Odums würden am Montagmorgen einen kleinen Besuch von Ralph bekommen, auch wenn sie das noch nicht wussten.
    Mr. Dials Blick verweilte auf Harriet, Miss Libby Cleves kleiner Nichte, und ihrem Freund, dem Hull-Jungen. Die beiden gehörten zur alten Gesellschaft von Alexandria und waren aus einer guten Gegend: Ihre Familien waren Mitglied im Country Club, und die Raten für ihren Wagen zahlten sie mehr oder weniger pünktlich.
    »Hely«, sagte Mr. Dial.
    Mit wildem Blick schrak Hely auf, zuckte von seinem Sonntagsschulheft hoch, das er wieder und wieder gefaltet hatte, bis es ein kleines Viereck war.
    Mr. Dial grinste. Seine kleinen Zähne, seine weit auseinander liegenden Augen – und die Gewohnheit, seine Klasse aus dem Profil anzuschauen und nicht von vorn – verliehen ihm oberflächlich das Aussehen eines unfreundlichen Delfins. »Möchtest du uns sagen, warum Johannes der Täufer zum Rufer in der Wüste wurde?«
    Hely wand sich. »Weil Jesus ihn dazu gebracht hat.« »Nicht ganz !« Mr. Dial rieb sich die Hände. »Wir wollen alle mal einen Augenblick über Johannes’ Situation nachdenken. Warum wohl zitiert er die Worte des Propheten Jesaja hier in«, er fuhr mit dem Finger auf der Seite herunter, »in Vers 23?«
    »Weil er Gottes Plan folgte?«, sagte ein dünnes Stimmchen in der ersten Reihe.
    Das war Annabel Arnold. Ihre behandschuhten Hände lagen sittsam auf der weißen Reißverschlussbibel in ihrem Schoß gefaltet.
    »Sehr gut!«, sagte Mr. Dial. Annabel kam aus einer guten Familie – einer guten christlichen Familie im Gegensatz zu cocktailtrinkenden Country-Club-Familien wie den Hulls. Annabel, eine Twirling-Meisterin, hatte wesentlich dazu beigetragen, einen kleinen jüdischen Schulkameraden zu Christus
zu führen. Am Dienstagabend würde sie drüben in der High School an einem regionalen Majoretten-Wettbewerb teilnehmen, einem Ereignis, zu dessen Hauptsponsoren Dial Chevrolet gehörte.
    Mr. Dial sah, dass Harriet etwas sagen wollte, und kam ihr hastig zuvor. »Habt ihr gehört, was Annabel gesagt hat, Jungen und Mädchen?«, fragte er strahlend. »Johannes der Täufer arbeitete gemäß dem göttlichen Plan. Und warum tat er das? Weil«, sagte Mr. Dial, und er drehte den Kopf und fixierte die Klasse mit dem anderen Auge, »weil Johannes der Täufer ein Ziel hatte.«
    Schweigen.
    »Warum ist es so wichtig, im Leben ein Ziel zu haben, Jungen und Mädchen?« Während er auf eine Antwort wartete, schob er einen kleinen Stapel Papier auf dem Pult einmal und noch einmal zurecht, sodass der Edelstein in seinem wuchtigen Goldring das Licht einfing und rot aufblitzte. »Wir wollen darüber nachdenken, ja? Ohne Ziele sind wir nicht motiviert, nicht wahr? Ohne Ziele geht es uns finanziell nicht gut! Ohne Ziele können wir nicht erreichen, was wir nach Christi Willen als Christen und Mitglieder der Gemeinde erreichen sollen!«
    Harriet, sah er mit leisem Schrecken, funkelte ihn ziemlich aggressiv an.
    »No Sir!« Mr. Dial klatschte in die Hände. »Denn Ziele helfen uns, damit wir uns auf das konzentrieren können, worauf es ankommt! Es ist wichtig, dass jeder von uns, ganz gleich, wie alt er ist, sich Ziele setzt, für das Jahr,

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