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Der kleine Freund: Roman (German Edition)

Der kleine Freund: Roman (German Edition)

Titel: Der kleine Freund: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Donna Tartt
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Badezimmer ein und ließ das Wasser laufen, bis Harriets Vater (bebend und mit rotem Gesicht) mit den Fäusten an die Tür hämmerte. Es war ein jämmerlicher Heiligabend gewesen; Harriet und Allison saßen starr im Wohnzimmer vor dem Baum, und die Weihnachtslieder (abwechselnd volltönend und jubilierend) brandeten machtvoll aus der Stereoanlage, aber nicht machtvoll genug, um das Geschrei im ersten Stock ganz zu übertönen. Alle waren erleichtert, als Harriets Vater früh am Weihnachtsnachmittag mit seinem Koffer und der Einkaufstüte mit Geschenken zu seinem Auto hinausstapfte und wieder wegfuhr, hinauf nach Tennessee. Der gesamte Haushalt konnte sich wohlig dösend wieder mit einem Seufzer dem Vergessen anheim geben.
    Harriets Haus war ein schläfriges Haus – für alle außer Harriet, die von Natur aus wach und aufmerksam war. Wenn sie als Einzige in der dunklen Stille wach war, was oft vorkam, war die Langeweile, die sich auf sie legte, so dicht, so glasig und verworren, dass sie manchmal nichts anderes tun konnte, als wie betäubt auf ein Fenster oder eine Wand zu starren. Ihre Mutter hielt sich fast nur in ihrem Schlafzimmer auf, und wenn Allison abends zu Bett gegangen war, meistens schon früh, gegen neun, war Harriet allein. Dann trank sie Milch geradewegs aus dem Karton, wanderte auf Strümpfen durch das Haus, zwischen den Zeitungsstapeln hindurch, die sich in fast jedem Zimmer türmten. Seit Robins Tod hatte Harriets Mutter eine seltsame Unfähigkeit entwickelt, irgendetwas wegzuwerfen, und der Müll, den man zuerst in Dachboden und Keller gepfercht hatte, quoll jetzt auch ins übrige Haus.
    Manchmal machte es Harriet Spaß, allein auf zu sein. Sie schaltete Lampen ein, ließ den Fernseher oder den Plattenspieler laufen, rief beim Gebetstelefon an oder ärgerte die Nachbarn mit anonymen Anrufen. Sie aß aus dem Kühlschrank, was sie wollte; sie kletterte auf hohe Regale und stöberte
in Schränken herum, die sie nicht öffnen durfte. Sie hüpfte auf dem Sofa, bis die Sprungfedern quietschten, und sie zog die Polster und Kissen herunter und baute sich Forts und Rettungsflöße auf dem Boden. Manchmal holte sie die Collegekleider ihrer Mutter aus dem Wandschrank (pastellfarbene Pullover mit Mottenlöchern, Stulpenhandschuhe in allen Farben und ein wasserblaues Ballkleid, das an Harriet einen halben Meter über den Fußboden schleifte). Ein gefährlicher Zeitvertreib, denn Harriets Mutter war ziemlich eigen mit ihren Kleidern, auch wenn sie sie niemals trug. Aber Harriet achtete darauf, dass sie alles wieder so zurücklegte, wie sie es vorgefunden hatte, und wenn ihre Mutter je etwas davon merkte, erwähnte sie es doch nie.
    Keins der Gewehre war geladen. Die einzige Munition im Schrank war eine Schachtel mit Schrotpatronen. Harriet, die nur eine sehr nebelhafte Vorstellung von dem Unterschied zwischen einem Gewehr und einer Schrotflinte hatte, schüttete die Patronen auf den Boden und ordnete sie sternförmig auf dem Teppich an. Eines der großen Gewehre war mit einem Bajonett ausgerüstet, was interessant war, aber ihr Lieblingsstück war eine Winchester mit Zielfernrohr. Sie schaltete die Deckenlampe aus, legte den Lauf auf das Sims des Wohnzimmerfensters und spähte mit zusammengekniffenen Augen durch das Zielfernrohr – auf geparkte Autos, auf den unter hohen Laternen glitzernden Asphalt, auf Rasensprenger, die zischelnd üppige leere Rasenflächen befeuchteten. Das Fort wurde angegriffen; sie war auf Posten, und das Leben aller war in ihrer Hand.
    Ein Windspiel klingelte auf Mrs. Fountains Vorderveranda. Wenn Harriet am ölschillernden Lauf ihres Gewehrs entlang über den ausgewucherten Rasen spähte, konnte sie den Baum sehen, an dem ihr Bruder gestorben war. Eine Brise wisperte in den glänzenden Blättern und kräuselte die schimmernden Schatten im Gras.
    Manchmal, wenn Harriet spät nachts durch das düstere Haus streifte, spürte sie, wie ihr toter Bruder nah an ihre Seite kam, und sein Schweigen war freundlich und vertraulich. Sie
hörte seine Schritte im Knarren der Bodendielen, spürte ihn im Spiel eines wehenden Vorhangs oder in dem Bogen, den eine von selbst aufschwingende Tür beschrieb. Gelegentlich war er boshaft; dann versteckte er ihr Buch oder ihren Schokoriegel und legte die Sachen wieder auf ihren Sessel, wenn sie nicht hinschaute. Harriet genoss seine Gesellschaft. Irgendwie stellte sie sich vor, dass es da, wo er lebte, immer Nacht war, und wenn sie nicht da war, war er ganz

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