Der kleine Freund: Roman (German Edition)
allein: saß unruhig zappelnd und einsam da und ließ die Beine baumeln, in einem Wartezimmer voll tickender Uhren.
Hier bin ich, sagte sie bei sich. Auf meinem Posten. Denn sie spürte den Glanz seiner Gegenwart ganz warm, wenn sie mit dem Gewehr am Fenster saß. Zwölf Jahre waren seit dem Tod ihres Bruders vergangen, und vieles hatte sich verändert oder war verschwunden, aber der Blick aus dem Wohnzimmerfenster war noch derselbe. Sogar der Baum war noch da.
Die Arme taten ihr weh. Vorsichtig legte sie das Gewehr neben ihrem Sessel auf den Boden und ging in die Küche, um sich ein Eis am Stiel zu holen. Sie kehrte ins Wohnzimmer zurück und aß es am Fenster, im Dunkeln und ohne Hast. Dann legte sie den Stiel auf einen Zeitungsstapel und nahm ihren Platz mit dem Gewehr wieder ein. Das Eis war mit Traubengeschmack, ihre Lieblingssorte. Im Gefrierschrank waren noch mehr, und niemand konnte sie hindern, die ganze Schachtel leer zu essen, aber es war schwierig, Eis am Stiel zu essen und gleichzeitig das Gewehr im Anschlag zu halten.
Sie bewegte den Lauf über den dunklen Himmel und verfolgte einen Nachtvogel über die mondbeschienenen Wolken. Eine Autotür wurde zugeschlagen. Schnell schwenkte sie auf das Geräusch zu und nahm Mrs. Fountain ins Visier, die spät von ihrer Chorprobe zurückkam und jetzt im dunstigen Licht der Straßenlaternen den Weg zu ihrem Haus entlangstolperte, selbstvergessen und ohne zu ahnen, dass ihr funkelnder Ohrring mitten im Zentrum von Harriets Fadenkreuz leuchtete. Verandalicht aus, Küchenlicht an. Mrs. Fountains hängeschultrige, ziegenköpfige Silhouette glitt über das Fensterrollo wie eine Figur in einem Schattenspiel.
»Peng«, flüsterte Harriet. Nur ein Zucken des Fingers, ein Druck des Knöchels, und Mrs. Fountain wäre da, wo sie hingehörte: beim Teufel. Da würde sie hinpassen – wo Hörner sich aus ihren Dauerwellen ringelten und hinten unter ihrem Kleid ein Schwanz mit einer Pfeilspitze hervorragte. Da konnte sie ihren Einkaufswagen durch die Hölle schubsen.
Ein Auto näherte sich. Sie schwenkte von Mrs. Fountain weg und verfolgte es mit ihrem Zielfernrohr – vergrößert, federnd, Teenager, die Fenster heruntergedreht, viel zu schnell –, bis die roten Rücklichter um die Ecke verschwanden.
Als sie zu Mrs. Fountain zurückkehren wollte, sah sie ein erleuchtetes Fenster über die Linse huschen, und dann war sie zu ihrem Entzücken mitten im Esszimmer der Godfreys auf der anderen Straßenseite. Die Godfreys waren rosige, fröhliche Leute, weit über vierzig – kinderlos, gesellig, aktiv in der Baptistengemeinde –, und sie dort zu wissen war tröstlich. Mrs. Godfrey stand da und löffelte gelbe Eiscreme aus einem Karton auf einen Teller. Mr. Godfrey saß am Tisch und wandte Harriet den Rücken zu. Die beiden waren allein. Eine Spitzentischdecke, eine niedrige Lampe mit rosa Schirm in der Ecke, gedämpftes Licht, alles scharf und intim, sogar das Weinblattmuster auf den Eiscremetellern der Godfreys und den Haarklammern in Mrs. Godfreys Frisur.
Die Winchester war ein Fernglas, eine Kamera, ein Instrument, mit dem man Dinge sehen konnte. Harriet schmiegte die Wange an den Kolben; er war glatt und sehr kühl.
Robin, dessen war sie sicher, wachte in diesen Nächten über sie, fast so, wie sie über ihn wachte. Sie fühlte, wie er hinter ihr atmete: ruhig, freundlich, froh über ihre Gesellschaft. Aber das Knarren und die Schatten im dunklen Haus machten ihr trotzdem manchmal Angst.
Unruhig und mit schmerzenden Armen vom Gewicht des Gewehrs, rutschte Harriet im Sessel hin und her. Gelegentlich rauchte sie in solchen Nächten eine der Zigaretten ihrer Mutter. In den schlimmsten Nächten konnte sie nicht einmal lesen, und die Buchstaben in ihren Büchern, sogar in der Schatzinsel und in Entführt – Bücher, die sie liebte und
niemals satt bekam – verwandelten sich in eine Art wildes Chinesisch: unlesbar, bösartig, eine juckende Stelle, an der sie nicht kratzen konnte. Einmal zerschlug sie aus blanker Frustration ein Porzellankätzchen, das ihrer Mutter gehörte, um kurz darauf voller Panik (denn ihre Mutter liebte die Figur und hatte sie schon als kleines Mädchen besessen) die Trümmer in ein Papierhandtuch zu wickeln und in eine leere Cornflakesschachtel zu stecken. Die Cornflakesschachtel stopfte sie ganz unten in die Mülltone. Das war über zwei Jahre her. Soweit Harriet wusste, hatte ihre Mutter immer noch nicht gemerkt, dass das Kätzchen aus der
Weitere Kostenlose Bücher