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Der kleine Freund: Roman (German Edition)

Der kleine Freund: Roman (German Edition)

Titel: Der kleine Freund: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Donna Tartt
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Kopfschmerzen bekommen konnte. Harriet sagte nichts. Sie klapperte mit gesenktem Kopf und auf dem Rücken verschränkten Händen voran, tief in Gedanken versunken.
    In einem freundschaftlichen Versuch, das Gespräch wieder zu beleben, warf Hely den Kopf in den Nacken und gab sein bestes Delphinschnattern von sich.
    Man ruft nur Flipper, Flipper, sang er in schmalzigem Ton, gleich wird er koooom-men...
    Zu seiner Genugtuung gab Harriet ein kurzes Schnauben von sich. Wegen seines meckernden Lachens und der delphinartig gewölbten Stirn war Flipper ihr Spitzname für Mr. Dial.
    »Was hast du denn geschrieben?«, fragte Hely. Er hatte die verhasste Jacke seines Sonntagsanzugs ausgezogen und wirbelte sie durch die Luft. »Warst du das mit dem schwarzen Punkt?«
    »Ja.«
    Hely strahlte. Solche rätselhaften und unvorhersehbaren
Gesten waren der Grund, weshalb er Harriet anbetete. Man kapierte nicht, warum sie so etwas tat oder warum es überhaupt cool war, aber es war cool. Dieser schwarze Klecks hatte Mr. Dial jedenfalls beunruhigt, erst recht nach dem Debakel mit Curtis. Er hatte geblinzelt und verstört geguckt, als ein Kind in der letzten Reihe ein weißes Blatt hochgehalten hatte – leer bis auf dieses unheimliche kleine Zeichen in der Mitte. »Da wollte jemand witzig sein«, fauchte er nach einem gespenstischen kurzen Aussetzer und ging dann sofort weiter zum nächsten Kind, denn das schwarze Zeichen war wirklich unheimlich – aber warum? Es war nur ein Bleistiftzeichen, aber trotzdem war es einen merkwürdigen Augenblick lang still im Zimmer geworden, als das Kind es in die Höhe gehalten hatte, damit alle es sehen konnte. Und daran erkannte man Harriets Hand: Sie konnte einem eine Heidenangst einjagen, und man wusste nicht mal genau, warum.
    Er stieß sie mit der Schulter an. »Weißt du, was komisch gewesen wäre? Du hättest schreiben sollen: Arsch. Ha!« Hely dachte sich dauernd Streiche für andere Leute aus; er hatte nicht den Mut, sie selbst zu begehen. »In ganz winzigen Buchstaben, weißt du, sodass er es kaum lesen kann.«
    »Das schwarze Zeichen ist aus der Schatzinsel«, sagte Harriet. »Du hast es von den Piraten gekriegt, wenn sie kamen, um dich umzubringen. Nur ein weißes Blatt Papier mit einem schwarzen Fleck drauf.«

    Zu Hause ging Harriet in ihr Zimmer und wühlte ein Notizbuch hervor, das sie in der Kommodenschublade unter ihrer Unterwäsche versteckt aufbewahrte. Dann legte sie sich auf die andere Seite von Allisons Doppelbett, wo man sie von der Tür aus nicht sehen konnte, obwohl es kaum wahrscheinlich war, dass man sie stören würde; Allison und ihre Mutter waren in der Kirche. Harriet hätte sich dort mit ihnen treffen sollen – und mit Edie und ihren Tanten –, aber ihre Mutter würde kaum bemerken, dass sie nicht gekommen war, und es würde sie auch kaum kümmern.
    Harriet konnte Mr. Dial nicht leiden, aber die Übung in der Sonntagsschule hatte sie trotzdem nachdenklich gemacht. Dazu herausgefordert, hatte sie nicht sagen können, was – für den Tag, für den Sommer, für den Rest ihres Lebens – ihre Ziele waren, und das beunruhigte sie, denn aus irgendeinem Grund verschmolz und verquickte sich diese Frage in ihrer Vorstellung, mit den unerfreulichen Wahrnehmungen im Zusammenhang mit der toten Katze im Werkzeugschuppen.
    Harriet unterzog sich selbst gern körperlichen Prüfungen (einmal hatte sie versucht, wie lange sie von achtzehn Erdnüssen am Tag leben konnte, was die Tagesration der Konföderierten am Ende des Krieges gewesen war), aber meistens ging es dabei um Leiden ohne praktischen Sinn. Das einzige wirkliche Ziel, das ihr einfallen wollte, ein ziemlich klägliches obendrein, war der erste Preis im sommerlichen Lesewettbewerb der Bibliothek. Seit sie sechs war, hatte Harriet jedes Jahr daran teilgenommen – und zweimal gewonnen –, aber jetzt, da sie älter war und richtige Romane las, hatte sie keine Chance mehr. Im letzten Jahr war der Preis an ein langes, dürres schwarzes Mädchen gegangen, das zwei- oder dreimal täglich kam und riesige Stapel Kleinkinderbücher von Dr. Seuss und so etwas wie »Coco fährt Rad« auslieh. Harriet hatte mit ihrem Ivanhoe und ihren Gespenstergeschichten von Algernon Blackwood und den Mythen und Legenden aus Japan hinter ihr in der Schlange gestanden und vor Wut geschäumt. Sogar Mrs. Fawcett, die Bibliothekarin, hatte eine Augenbraue hochgezogen, und daran konnte man deutlich erkennen, wie sie darüber dachte.
    Harriet schlug

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