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Der kleine Freund: Roman (German Edition)

Der kleine Freund: Roman (German Edition)

Titel: Der kleine Freund: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Donna Tartt
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Porzellanvitrine verschwunden war. Aber wann immer Harriet daran dachte, und besonders wenn sie sich versucht fühlte, etwas Ähnliches wieder zu tun (eine Teetasse zu zerbrechen, das Tischtuch mit einer Schere zu zerfetzen), überkam sie ein schwindliges, flaues Gefühl. Sie könnte das Haus anzünden, wenn sie wollte, und niemand wäre da, um sie daran zu hindern.
    Eine rostig braune Wolke hatte sich halb vor den Mond geschoben. Sie schwenkte den Lauf zurück zum Fenster der Godfreys. Jetzt hatte auch Mrs. Godfrey Eiscreme. Sie sprach mit ihrem Mann und nahm zwischendurch immer wieder gemächlich einen Löffel voll, und ihr Gesichtsausdruck wirkte ziemlich kühl und verärgert. Mr. Godfrey stützte beide Ellenbogen auf die Spitzentischdecke. Harriet sah nur seinen kahlen Hinterkopfmitten im Zentrum ihres Fadenkreuzes, und sie konnte nicht erkennen, ob er Mrs. Godfrey Antwort gab oder ob er überhaupt zuhörte.
    Plötzlich stand er auf, streckte sich und ging hinaus. Mrs. Godfrey, die jetzt allein am Tisch saß, sagte noch etwas. Während sie den letzten Löffel Eiscreme in den Mund steckte, drehte sie den Kopf ein wenig zur Seite, als höre sie, was Mr. Godfrey aus dem anderen Zimmer antwortete, und dann stand sie auf und ging zur Tür, und sie strich sich den Rock mit dem Handrücken glatt. Dann wurde das Bild schwarz. Das Licht bei ihnen war das einzige in der Straße gewesen. Bei Mrs. Fountain war es schon lange dunkel.
    Harriet warf einen Blick auf die Kaminuhr. Es war nach elf, und sie musste am nächsten Morgen um neun für die Sonntagsschule aufstehen.
    Es gab keinen Grund, Angst zu haben, die Laternen in der ruhigen Straße leuchteten hell, aber im Haus war es sehr still, und Harriet war ein bisschen nervös. Obwohl er am helllichten Tag zu ihrem Haus gekommen war, hatte sie vor allem nachts Angst vor dem Mörder. Wenn er in ihren Alpträumen zurückkam, war es immer dunkel: Ein kalter Wind wehte durch das Haus, Gardinen blähten sich, und alle Fenster und Türen standen offen, während sie hin und her rannte und die Schiebefenster herunterknallte und an den Schlössern herumfummelte und ihre Mutter ungerührt auf dem Sofa saß, mit Coldcream im Gesicht und ohne einen Finger zu rühren, um ihr zu helfen, und nie hatte sie genug Zeit, bis das Glas klirrte und die behandschuhte Hand hereinlangte, um den Türgriff zu drehen. Manchmal sah Harriet noch, wie die Tür sich öffnete, aber immer wachte sie auf, bevor sie ein Gesicht sah.
    Auf Händen und Knien sammelte sie die Patronen ein. Sie stapelte sie säuberlich wieder in der Schachtel, wischte ihre Fingerabdrücke von dem Gewehr und stellte es zurück; dann schloss sie den Schrank ab und warf den Schlüssel wieder in das rote Lederkästchen im Schreibtisch ihres Vaters, wo er hingehörte: zu dem Nagelknipser, einigen einzelnen Manschettenknöpfen, einem Paar Würfel in einem grünen Wildlederbeutel und einem Stapel verblichener Streichholzheftchen aus Nightclubs in Memphis und Miami und New Orleans.
    Oben zog sie sich leise aus, ohne das Licht einzuschalten. Im anderen Bett lag Allison mit dem Gesicht nach unten wie eine Wasserleiche. Über ihre Bettdecke wanderte das Mondlicht hin und her, ein Tüpfelmuster, das sich spielerisch veränderte, wenn der Wind durch die Bäume strich. Ein Wust von Stofftieren war um sie herum ins Bett gepackt wie in ein Rettungsboot – ein Patchwork-Elefant, ein gefleckter Hund, dem ein Knopfauge fehlte, ein wolliges schwarzes Lämmchen und ein Känguru aus violettem Baumwollsamt und eine ganze Familie von Teddybären –, und ihre unschuldigen Formen drängten sich
um ihren Kopf, niedlich, grotesk und schattenhaft, als wären es Kreaturen aus Allisons Träumen.

    »So, Jungen und Mädchen«, sagte Mr. Dial. Mit einem kalten, walgrauen Auge musterte er Harriets und Helys Sonntagsschulklasse, die infolge Mr. Dials Begeisterung für das Camp Lake de Selby und dessen Befürwortung seitens der Eltern seiner Schüler mehr als halb leer war. »Jetzt sollt ihr alle mal eine Minute über Moses nachdenken. Warum war Moses so versessen darauf, die Kinder Israels in das Gelobte Land zu führen?«
    Schweigen. Mr. Dials taxierender Verkäuferblick wanderte über die kleine Schar von desinteressierten Gesichtern. Die Kirche, die nicht wusste, was sie mit dem neuen Schulbus anfangen sollte, hatte ein Sozialprojekt gestartet, in dem sie unterprivilegierte weiße Kinder vom Lande abholte und zur Sonntagsschule in die wohl ausgestatteten,

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