Der kleine Freund: Roman (German Edition)
für die Woche, ja, für die Stunde, denn sonst haben wir niemals den Drive, unseren Hintern vor dem Fernseher hochzuheben und unseren Lebensunterhalt zu verdienen, wenn wir erwachsen sind.«
Während er redete, fing er an, Papier und Buntstifte zu verteilen. Es konnte nicht schaden, ein paar von diesen kleinen Ratliffs und Odums ein bisschen Arbeitsethos einzutrichtern. Zu Hause kriegten sie davon jedenfalls nichts mit – so, wie die meisten von ihnen herumsaßen und sich von Staat durchfüttern ließen. Die Übung, die er ihnen zugedacht hatte, war eine, an der Mr. Dial selbst einmal teilgenommen und die er als äußerst
motivierend erlebt hatte; sie stammte von einem christlichen Verkäuferseminar, auf dem er im Sommer zuvor in Lynchburg, Virginia, gewesen war.
»Jetzt wollen wir alle mal ein Ziel aufschreiben, das wir in diesem Sommer erreichen wollen«, sagte Mr. Dial. Er formte seine Hände zu einem Kirchturm und legte die Zeigefinger an die geschürzten Lippen. »Das kann ein Projekt sein, ein finanzieller oder persönlicher Erfolg... oder es kann etwas sein, womit ihr eurer Familie helft, der Gemeinde oder dem Herrn. Ihr braucht euren Namen nicht darunter zu schreiben, wenn ihr nicht wollt – macht nur ein kleines Zeichen unten an den Rand, das darstellt, wer ihr seid.«
Mehrere verschlafene Köpfe fuhren panisch hoch.
»Nichts zu Kompliziertes! Zum Beispiel...« Mr. Dial verknotete seine Hände ineinander. »Zum Beispiel könnt ihr einen Fußball zeichnen, wenn ihr gern Sport habt, oder ein fröhliches Gesicht, wenn ihr die Leute gern zum Lächeln bringt.«
Er setzte sich wieder, und da die Kinder ihr Papier und nicht ihn anschauten, wurde sein breites Grinsen, das die kleinen Zähne entblößte, an den Rändern ein bisschen säuerlich. Nein, es war egal, wie sehr man sich mit diesen kleinen Odums und Ratliffs und so weiter abmühte; man brauchte sich nicht einzubilden, dass man ihnen auch nur die geringste Kleinigkeit beibringen könnte. Er schaute über die stumpfen kleinen Gesichter hinaus, die lustlos an den Enden ihrer Buntstifte lutschten. In ein paar Jahren würden diese kleinen Pechvögel Mr. Dial und Ralph mit ihren geplatzten Autokrediten in Atem halten, wie es ihre Cousins und Brüder jetzt taten.
Hely beugte sich vor, um zu sehen, was Harriet auf ihr Blatt geschrieben hatte. »Hey«, flüsterte er. Als persönliches Symbol hatte er gehorsam einen Fußball gemalt, aber dann hatte er fast fünf Minuten lang in betäubtem Schweigen vor sich hingestarrt.
»Nicht schwatzen da hinten«, sagte Mr. Dial.
Mit übertriebenem Ausatmen stand er auf und sammelte
die Arbeiten ein. »Also«, sagte er und deponierte die Blätter in einem Stapel auf seinem Tisch. »Jetzt stellen sich alle in einer Reihe auf, und jeder nimmt ein Blatt – nein«, blaffte er, als mehrere Kinder gleichzeitig von ihren Stühlen aufsprangen, »nicht rennen. Einer nach dem andern.«
Ohne Begeisterung kamen die Kinder zum Pult geschlurft. Als Harriet wieder an ihrem Platz saß, nestelte sie das Blatt auseinander, das sie sich ausgesucht hatte. Es war zur äußersten Winzigkeit einer Briefmarke zusammengefaltet.
Hely prustete unvermutet los. Er schob Harriet das Blatt zu, das er genommen hatte. Unter einer rätselhaften Zeichnung (ein kopfloser Klecks mit Strichbeinen, halb Möbelstück, halb Insekt – Harriet hätte nicht sagen können, was für ein Tier, was für einen Gegenstand, ja, was für einen Maschinenteil es darstellen sollte) purzelte die verknotete Schrift holprig im Fünfundvierzig-Grad-Winkel über das Papier. Mein Zihl, las Harriet, ist dady soll mit mir nach Opry Land.
Harriet hatte endlich auch ihr eigenes Blatt entfaltet. Es war Annabel Arnolds Handschrift: rund und gewissenhaft, mit sorgsamen Schnörkeln an dengs und h s.
Mein Ziel!
Mein Ziel ist, jeden Tag ein kleines Gebet zu sprechen
und Gott zu bitten, dass er mir einen
neuen Menschen schickt, dem ich helfen kann!!!!
Harriet starrte hasserfüllt auf das Blatt. Unten auf der Seite bildeten zwei große Bs, Rücken an Rücken, einen albernen Schmetterling.
»Harriet?«, sagte Mr. Dial plötzlich. »Fangen wir mit dir an.«
In einem ausdruckslosen Ton, der ihre Verachtung hoffentlich zum Ausdruck brachte, las Harriet den verschnörkelten Vorsatz laut vor.
»Das ist wirklich ein hervorragendes Ziel«, sagte Mr. Dial warmherzig. »Es ist ein Aufruf zum Gebet, aber auch ein Aufruf
zum Dienen. Hier haben wir einen jungen Christenmenschen mit
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