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Der kleine Freund: Roman (German Edition)

Der kleine Freund: Roman (German Edition)

Titel: Der kleine Freund: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Donna Tartt
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Sinn für die anderen in Kirche und Gemein... Ist da hinten irgendetwas komisch?«
    Die schwachen Kicherer verstummten.
    Mr. Dial sagte mit größerem Nachdruck: »Harriet, was sagt uns dieses Ziel über die Person, die es aufgeschrieben hat?«
    Hely tippte Harriet ans Knie, und neben seinem Bein machte er eine unauffällige kleine Geste mit abwärts gerichtetem Daumen: Loser.
    »Ist ein Symbol dabei?«
    »Bitte?«, sagte Harriet.
    »Welches Symbol hat der Verfasser oder die Verfasserin gewählt, um sich darzustellen?«
    »Ein Insekt.«
    »Ein Insekt ?«
    »Das ist ein Schmetterling«, sagte Annabel leise, aber Mr. Dial hörte es nicht.
    »Was für ein Insekt?«, wollte er von Harriet wissen.
    »Ich weiß nicht genau, aber es sieht aus, als ob es einen Stachel hätte.«
    Hely reckte den Hals, um es sehen zu können. »Eklig«, rief er in scheinbar ungeheucheltem Entsetzen, »was ist das?«
    »Reich es nach vorn«, sagte Mr. Dial in scharfem Ton.
    »Wer zeichnet denn so was?« Hely schaute fassungslos in die Runde.
    »Das ist ein Schmetterling «, sagte Annabel, hörbarer jetzt.
    Mr. Dial erhob sich, um nach dem Blatt zu greifen, und ganz plötzlich – so plötzlich, dass alle zusammenschraken – gab Curtis Ratliff ein begeistertes Truthahnkollern von sich. Er deutete nach vorn auf das Pult und fing an, aufgeregt auf seinem Stuhl herumzuhopsen.
    »Dat mei«, kollerte er. »Dat mei.«
    Mr. Dial erstarrte. Davor hatte ihm immer gegraut: dass der gemeinhin zahme Curtis eines Tages explodieren und einen Anfall von Gewalttätigkeit oder Krämpfen bekommen könnte.
    Hastig verließ er das Pult und eilte zur vorderen Reihe. »Stimmt etwas nicht, Curtis?« Er beugte sich tief herunter,
und sein vertraulicher Ton war im ganzen Klassenzimmer zu hören. »Musst du zur Toilette?«
    Curtis kollerte, und er war puterrot im Gesicht. Auf seinem ächzenden Stuhl, der zu klein für ihn war, hüpfte er so energisch auf und ab, dass Mr. Dial den Kopf einzog und zurückwich.
    Curtis stach mit dem Finger in die Luft. »Dat mei«, krähte er. Unvermittelt sprang er von seinem Stuhl auf – mit einem leisen, erniedrigenden Aufschrei stolperte Mr. Dial rückwärts – und raffte ein zerknülltes Blatt vom Pult.
    Dann strich er es sehr behutsam glatt und reichte es Mr. Dial. Er deutete auf das Papier und dann auf sich. »Mei«, sagte er strahlend.
    »Oh«, sagte Mr. Dial. Aus dem hinteren Teil des Klassenzimmers hörte er Geflüster und unverfrorenes heiteres Geschnaufe. »Ganz recht, Curtis. Das ist dein Blatt.« Mr. Dial hatte es absichtlich nicht zu denen der anderen Kinder gelegt. Curtis verlangte zwar immer Papier und Bleistift und weinte, wenn man es ihm versagte, aber er konnte weder lesen noch schreiben.
    »Mei«, sagte Curtis und deutete sich mit dem Daumen auf die Brust.
    »Ja«, sagte Mr. Dial vorsichtig. »Das ist dein Ziel, Curtis. Stimmt genau.«
    Er legte das Blatt wieder auf den Tisch. Curtis raffte es wieder auf und streckte es ihm erwartungsvoll lächelnd entgegen.
    »Ja, danke, Curtis«, sagte Mr. Dial und zeigte auf den leeren Stuhl. »Ach, Curtis? Du kannst dich jetzt wieder hinsetzen. Ich will nur...«
    »Lie.«
    »Curtis. Wenn du dich nicht hinsetzt, kann ich nicht...«
    »Lie mei!«, kreischte Curtis, und zu Mr. Dials Entsetzen begann er auf und abzuspringen. »Lie mei! Lie mei! Lie mei!«
    Mr. Dial warf einen entgeisterten Blick auf das zerknickte Blatt Papier in seiner Hand. Da stand nichts außer ein paar Kritzeleien, wie ein Baby sie machen würde.
    Curtis klapperte liebreizend mit den Augendeckeln und
machte einen schwerfälligen Schritt nach vorn. Für einen Mongoloiden hatte er sehr lange Wimpern. »Lie«, sagte er.

    »Ich frage mich, was Curtis’ Ziel war«, sagte Harriet versonnen, als sie und Hely zusammen nach Hause gingen. Ihre Lackschuhe klapperten auf dem Gehweg. Es hatte in der Nacht geregnet, und der feuchte Zement war übersät von durchdringend riechenden Büscheln von abgemähtem Gras und zerdrückten Blütenblättern, die von den Sträuchern abgeweht waren.
    »Ich meine«, sagte Harriet, »glaubst du, Curtis hat überhaupt ein Ziel?«
    »Mein Ziel war, dass Curtis Mr. Dial in den Arsch treten sollte.«
    Sie bogen in die George Street ein, wo Pekan- und Amberbäume in vollem, dunklem Laub standen und die Bienen in Kreppmyrten, Jasmin und rosa Floribunda-Rosen machtvoll summten. Der muffig trunkene Duft der Magnolien war so schweißtreibend wie die Hitze selbst und so schwer, dass man davon

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