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Der kleine Freund: Roman (German Edition)

Der kleine Freund: Roman (German Edition)

Titel: Der kleine Freund: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Donna Tartt
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Anfang eines Märchens hatte eine geheimnisvolle Sehnsucht sie erfasst, ein Verlangen danach, weite Reisen zu machen und große Dinge zu tun; und wenn sie auch nicht genau hätte sagen können, was sie eigentlich tun wollte, wusste sie doch, dass es etwas Großartiges und Düsteres und äußerst Schwieriges war.
    Sie blätterte ein paar Seiten zurück, bis zu der Liste der Menschen, die sie bewunderte: überwiegend Generäle, Soldaten, Forscher, Männer der Tat samt und sonders. Johanna von Orleans hatte Armeen geführt, als sie kaum älter als Harriet gewesen war. Dennoch hatte Harriets Vater ihr im Jahr zuvor zu Weihnachten ein besonders beleidigendes Brettspiel für Mädchen geschenkt: Was soll ich werden? Es war ein besonders durchsichtiges Spiel, das angeblich Berufsberatung bieten sollte, aber – ganz gleich, wie gut man es spielte, immer nur vier Zukunftsmöglichkeiten anbot: Lehrerin, Ballerina, Mutter oder Krankenschwester.
    Das Beste für sie, wie es in ihrem Lehrbuch »Gesundheit« hieß (eine logische Aufeinanderfolge von Jungenfreundschaft, »Erfolg«, Heirat und Mutterschaft), interessierte Harriet nicht. Von allen Helden auf ihrer Liste war Sherlock Holmes
der größte, und der war nicht einmal eine reale Person. Dann war da Harry Houdini. Er war ein Meister des Unmöglichen, und was für Harriet noch wichtiger war: Er war ein Meister des Entkommens. Kein Gefängnis der Welt konnte ihn halten; er entkam aus Zwangsjacken, aus verschlossenen Truhen, die man in reißende Flüsse warf, und aus Särgen, die man sechs Fuß tief in der Erde vergrub.
    Und wie hatte er das geschafft? Er hatte keine Angst. Die heilige Johanna war von Engeln flankiert hinausgaloppiert, aber Houdini hatte die Angst allein gemeistert. Ohne göttlichen Beistand hatte er sich auf die harte Tour selbst beigebracht, wie man die Panik bekämpfte, die grauenhafte Angst vor dem Ersticken, dem Ertrinken und der Dunkelheit. Mit Handschellen gefesselt in einer verschlossenen Truhe auf dem Grunde eines Flusses, hatte er nicht einen Herzschlag darauf verschwendet, Angst zu haben, und nie war er unter dem Schrecken der Ketten, der Dunkelheit und des eisigen Wassers eingeknickt. Hätte ihn auch nur einen Augenblick lang Schwindel erfasst, hätten ihm bei der atemlosen Mühe, die vor ihm lag – Hals über Kopf über das Flussbett polternd –, die Hände gezittert, dann wäre er niemals lebend aus dem Wasser gekommen.
    Ein Trainingsprogramm. Das war Houdinis Geheimnis. Er war täglich in Fässer voll Eis gestiegen und gewaltige Strecken unter Wasser geschwommen, und er hatte das Luftanhalten geübt, bis er drei Minuten lang erreicht hatte. Die Sache mit den Eisfässern konnte sie nicht realisieren, aber das Schwimmen und das Atemanhalten – das lag im Bereich des Möglichen.
    Sie hörte, wie ihre Mutter und ihre Schwester zur Haustür hereinkamen, hörte die Stimme ihrer Schwester, klagend, unverständlich. Schnell versteckte sie das Notizbuch und lief die Treppe hinunter.

    »Sag nicht ›hassen‹, Schatz«, sagte Charlotte geistesabwesend zu Allison. Sie saßen zu dritt in ihren Sonntagskleidern am
Tisch und aßen das Huhn, das Ida ihnen zum Mittagessen dagelassen hatte.
    Allison hing das Haar ins Gesicht; sie saß da und starrte auf ihren Teller und kaute auf einer Zitronenscheibe aus ihrem Eistee. Zwar hatte sie ihr Essen durchaus energisch zersägt, auf dem Teller hin und her geschoben und zu unappetitlichen Häuflein aufgetürmt (eine Gewohnheit, die Edie in den Wahnsinn trieb), aber sie hatte sehr wenig davon gegessen.
    »Ich weiß nicht, warum Allison nicht ›hassen‹ sagen darf, Mutter«, wandte Harriet ein. »›Hassen‹ ist ein tadelloses Wort.«
    »Es ist nicht höflich.«
    »In der Bibel steht ›hassen‹. Der Herr hasset dieses, der Herr hasset jenes. Steht praktisch auf jeder Seite.«
    »Schön, aber ihr sollt es nicht sagen.«
    »Also gut«, platzte Allison heraus. »Ich verabscheue Mrs. Biggs.« Mrs. Biggs war Allisons Sonntagsschullehrerin.
    Im Nebel ihrer Tranquilizer empfand Charlotte milde Überraschung. Allison war sonst ein so scheues, sanftes Mädchen. Derart verrückte Reden über das Hassen von Leuten waren eher etwas, das sie von Harriet erwarten würde.
    »Aber Allison«, sagte sie, »Mrs. Biggs ist eine liebe alte Seele. Und sie ist eine Freundin von deiner Tante Adelaide.«
    Allison harkte mit ihrer Gabel durch die Unordnung auf ihrem Teller. »Ich hasse sie trotzdem.«
    »Aber es ist kein guter Grund,

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