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Der kleine Freund: Roman (German Edition)

Der kleine Freund: Roman (German Edition)

Titel: Der kleine Freund: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Donna Tartt
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jetzt an alles, aber auch alles, zu Papier zu bringen.
    Plötzlich kam ihr ein Gedanke. Wo wohnte er? Sie hüpfte aus dem Bett und ging nach unten zum Telefontisch im Eingangsflur. Als sie seinen Namen im Telefonbuch gefunden hatte  – Danny Ratliff  –, lief ihr ein spinnenhaftes Frösteln über den Rücken.
    Eine richtige Adresse stand nicht dabei, nur Rt. 260. Harriet nagte unschlüssig an der Unterlippe, und dann wählte sie die Nummer und sog überrascht die Luft zwischen den Zähnen ein, als schon beim ersten Klingeln abgenommen wurde (im Hintergrund hässliches Fernsehgeratter). Eine Männerstimme bellte: »Hallopp!«
    Mit einem Riesenkrach, als schlage sie den Deckel über einem Teufel zu, schmiss Harriet den Hörer mit beiden Händen auf die Gabel.

    »Ich hab gestern Abend gesehen, wie mein Bruder versucht hat, deine Schwester zu küssen«, sagte Hely zu Harriet, als sie nebeneinander bei Edie auf der hinteren Treppe saßen. Er war nach dem Frühstück gekommen, um sie abzuholen.
    »Am Fluss. Ich war angeln.« Hely wanderte andauernd mit seiner Bambusrute und einem kläglichen Eimer Würmer zum Fluss hinunter. Niemand kam je mit, und niemand wollte je die kleinen Brassen und Crappies haben, die er da fing, und deshalb ließ er sie fast immer wieder frei. Wenn er so allein im Dunkeln saß – nachts angelte er am liebsten, wenn die Frösche quakten und ein breites weißes Band aus Mondlicht sich auf dem Wasser kräuselte –, träumte er davon, wie er und Harriet allein wie Erwachsene in einer kleinen Hütte am Fluss wohnten. Diese Vorstellung konnte ihn stundenlang unterhalten. Schmutzige Gesichter, Blätter in den Haaren. Lagerfeuer anzünden. Frösche und Schlammschildkröten fangen. Harriets Augen, die ihm plötzlich im Dunkeln entgegenleuchteten, grausam wie bei einer kleinen Wildkatze.
    Ihn schauderte. »Ich wünschte, du wärest gestern Abend mitgekommen«, sagte er. »Ich hab eine Eule gesehen.«
    »Was hat Allison denn da gemacht?«, fragte Harriet ungläubig. »Doch nicht etwa geangelt .«
    »Nein. Weißt du...« Vertraulich rutschte er auf dem Hintern näher an sie heran. »Ich hab Pems Auto oben auf der Böschung gehört. Du weißt doch, wie es klingt...« Mit kundig gespitzten Lippen ahmte er das Geräusch nach: wapp wapp wapp wapp! »Man hört ihn meilenweit kommen. Ich wusste, dass er es war, und ich dachte, Mama hat ihn geschickt, damit er mich holt. Also hab ich mein Zeug eingesammelt und bin die Böschung raufgeklettert. Aber er wollte nicht zu mir.« Hely lachte, ein kurzes, wissendes Auflachen, das so weltklug klang, dass er es gleich noch einmal, und zwar noch besser, wiederholte.
    »Was ist daran so komisch?«
    »Na ja ...« Die Gelegenheit, die sie ihm bot, sein weltkluges neues Lachen ein drittes Mal auszuprobieren, war unwiderstehlich. »Da war Allison, weit außen auf ihrer Seite im Auto, aber Pem hatte den Arm auf die Lehne gelegt und beugte sich
zu ihr rüber« (er streckte den Arm hinter Harriets Schultern aus, um es zu demonstrieren) »so, weißt du.« Er gab ein lautes, nasses, schmatzendes Geräusch von sich, und Harriet rückte gereizt von ihm ab.
    »Hat sie ihn zurückgeküsst?«
    »Sie sah aus, als ob es ihr egal wäre. Ich hab mich ganz nah rangeschlichen.« Er strahlte. »Ich wollte einen Regenwurm in den Wagen werfen, aber Pem hätte mich verprügelt.«
    Er holte eine gekochte Erdnuss aus der Tasche und bot sie Harriet an, aber sie schüttelte den Kopf.
    »Was ist los? Die sind nicht giftig .«
    »Ich mag keine gekochten Erdnüsse.«
    »Gut, eine mehr für mich.« Er steckte sich die Erdnuss in den Mund. »Komm schon, geh heute mit mir angeln.«
    »Nein danke.«
    »Ich hab eine Sandbank im Schilf gefunden, ganz versteckt. Ein Weg führt geradewegs hin. Es wird dir Spaß machen da. Weißer Sand, wie in Florida.«
    »Nein.« Harriets Vater sprach oft in dem gleichen aufreizenden Ton mit ihr, wenn er ihr voller Zuversicht versprach, dass ihr dies oder jenes »Spaß machen« werde (Football, Squaredance-Musik, ein Kochnachmittag in der Kirche), während sie genau wusste, dass es ihr ein Gräuel sein würde.
    »Was ist los mit dir, Harriet?« Es schmerzte Hely, dass sie nie bei dem mitmachte, was er gern tun wollte. Er wollte mit ihr auf dem schmalen Pfad durch das hohe Gras spazieren, ihre Hand halten und Zigaretten rauchen wie Erwachsene, die nackten Beine zerkratzt und schlammverschmiert. Feiner Regen und feiner weißer Schaum, am Rand des Schilfs

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