Der kleine Freund: Roman (German Edition)
heraufgeweht.
Harriets Großtante Adelaide war eine unermüdliche Haushälterin. Anders als ihre Schwestern, deren kleine Häuser bis unters Dach voll gestopft waren mit Büchern, Setzkästen und Nippes, Schnittmustern und Tabletts mit selbst gezogener Kapuzinerkresse und von den Katzen zerfetzten Frauenhaarfarnen,
hatte Adelaide keinen Garten und keine Tiere, sie hasste das Kochen, und sie hatte eine Sterbensangst vor dem, was sie »Durcheinander« nannte. Sie klagte darüber, dass sie sich keine Haushälterin leisten könne, was Tat und Edie rasend machte, denn mit ihren drei monatlichen Rentenschecks (dank drei verstorbenen Ehegatten) war Adelaide finanziell sehr viel besser gestellt als sie, aber die Wahrheit war, dass sie das Putzen liebte (seit ihrer Kindheit im verfallenen Haus »Drangsal« war ihr jegliche Unordnung ein Gräuel), und sie war selten glücklicher als dann, wenn sie Vorhänge waschen, Wäsche bügeln oder mit einem Staubtuch und einer Spraydose mit zitronenduftender Möbelpolitur in ihrem kahlen, nach Desinfektionsmittel riechenden Haus herumwerkeln konnte.
Wenn Harriet vorbeikam, traf sie Adelaide meistens beim Staubsaugen oder beim Auswaschen der Küchenschränke an, aber heute saß sie auf dem Sofa im Wohnzimmer: Perlenclips am Ohrläppchen, das geschmackvoll aschblond getönte Haar frisch gewellt, die nylonbestrumpften Knöchel übereinander gelegt. Sie war immer die hübscheste der Schwestern gewesen, und mit fünfundsechzig war sie auch die jüngste. Anders als bei der zaghaften Libby, der Walküre Edith oder der nervösen, konfusen Tat verspürte man bei Adelaide eine unterschwellige Koketterie, das schelmenhafte Funkeln der lustigen Witwe, und ein vierter Ehemann war keineswegs ausgeschlossen, sollte sich unerwartet der richtige Mann (ein flotter Gentleman im Blazer, mit schütterem Haar und vielleicht mit Ölquellen oder einer Pferdezucht) in Alexandria präsentieren und sich an sie heranmachen.
Adelaide brütete über der Juni-Nummer von Town and Country , die eben gekommen war. Sie war bei den Hochzeiten. »Wer von diesen beiden hat das Geld, glaubst du?« Sie zeigte Harriet ein Foto mit einem dunkelhaarigen jungen Mann mit frostigen, gehetzten Augen neben einer Blondine mit glänzendem Gesicht in einem geschnürten Reifrock, in dem sie aussah wie ein Dinosaurierbaby.
»Der Mann sieht aus, als müsste er sich gleich übergeben.« »Ich begreife nicht, was das ganze Getue um Blondinen soll.
›Blondinen bevorzugt‹ und so weiter. Ich glaube, das haben sich die Leute im Fernsehen zusammengesponnen. Die meisten echten Blondinen haben charakterschwache Gesichter, und sie sehen ausgewaschen und kaninchenhaft aus, wenn sie sich nicht mit viel Aufwand zurechtmachen. Sieh dir dieses arme Mädchen an. Sieh sie dir an. Sie hat ein Gesicht wie ein Schaf.«
»Ich wollte mit dir über Robin reden.« Harriet sah keinen Sinn darin, sich dem Thema auf elegante Weise zu nähern.
»Was sagst du, Schätzchen?« Adelaide betrachtete ein Foto von einem Wohltätigkeitsball. Ein schlanker junger Mann mit schwarzer Krawatte und einem klaren, selbstbewussten, unverdorbenen Gesicht bog sich vor Lachen nach hinten, die eine Hand locker auf dem Rücken einer schnittigen Brünetten in einem bonbonrosafarbenen Ballkleid und dazu passenden Stulpenhandschuhen gelegt.
»Robin , Addie.«
»Oh, Darling«, sagte Adelaide wehmütig und blickte von dem hübschen Jungen auf dem Foto auf. »Wenn Robin jetzt noch bei uns wäre, würden die Mädchen reihenweise schwach werden. Schon als er noch ganz klein war – so fröhlich war er, dass er manchmal hintenüber kippte, weil er so schrecklich lachen musste. Er hat sich gern von hinten an mich herangeschlichen, mir die Arme um den Hals geworfen und an meinem Ohr geknabbert. Anbetungswürdig. Wie ein Papagei namens Billy Boy, den Edie hatte, als wir Kinder waren...«
Adelaide verlor sich in Gedanken, als ihr Blick wieder auf das triumphierende Lachen des jungen Yankees fiel. Student im zweiten Jahr lautete die Bildunterschrift. Wenn Robin jetzt noch lebte, wäre er ungefähr genauso alt. Sie verspürte ein leises Flattern der Empörung. Welches Recht hatte dieser F. Dudley Willard, wer immer er war, zu leben und im Plaza Hotel zu lachen, während im Palm Court ein Orchester spielte und sein Hochglanzmädchen im Satinkleid ihn anstrahlte? Adelaides eigene Ehemänner waren nacheinander dem Zweiten Weltkrieg, einer versehentlich bei der Jagd abgefeuerten Kugel und
Weitere Kostenlose Bücher