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Der kleine Freund: Roman (German Edition)

Der kleine Freund: Roman (German Edition)

Titel: Der kleine Freund: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Donna Tartt
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Daddy zwingt sie, zwei Kinder und ein Baby großzuziehen.« Aber Libby hatte dieses Opfer fröhlich und ohne Bedauern auf sich genommen. Ihren missmutigen, undankbaren alten Vater hatte sie angebetet und es als Privileg empfunden, zu Hause zu bleiben und für ihre mutterlosen Geschwister zu sorgen, die sie verschwenderisch liebte, ohne je an sich selbst zu denken. Wegen ihrer Großzügigkeit, ihrer Geduld und ihrer klaglosen guten Laune war sie in den Augen ihrer jüngeren Schwestern (die nichts von ihrer Sanftheit an sich hatten) so heilig, wie es ein
Mensch nur sein konnte. Als junge Frau war sie ziemlich blass und reizlos gewesen (aber strahlend hübsch, wenn sie lächelte); jetzt, als Zweiundachtzigjährige, mit ihren Satinpantoffeln, ihren rosa Satinbettjäckchen und ihren Angorastrickjacken mit rosa Bändern, mit ihren riesigen blauen Augen und dem seidigen weißen Haar – jetzt hatte sie etwas Babyhaftes, Anbetungswürdiges an sich.
    Betrat man Libbys wohl behütetes Schlafzimmer mit seinen hölzernen Fensterläden und den Wänden, so blau wie Enteneier, dann war es, als gleite man in ein freundliches Unterwasser-Königreich. Rasenflächen, Häuser und Bäume draußen in der glühenden Sonne sahen ausgebleicht und feindselig aus, und der vor Hitze flimmernde Asphalt erinnerte Harriet an die Schwarzdrossel, an das strahlende, sinnlose Grauen, das in ihren Augen geleuchtet hatte. Aber Libbys Zimmer bot Zuflucht vor all dem: vor Hitze, Staub und Grausamkeit. Farben und Oberflächen hatten sich nicht geändert, seit Harriet ein Baby gewesen war: matte, dunkle Bodendielen, eine flauschige Tagesdecke aus Chenille, staubige Organza-Gardinen, die kristallene Pralinenschale, in der Libby ihre Haarnadeln aufbewahrte. Auf dem Kamimsims schlummerte ein klobiger, eiförmiger Briefbeschwerer aus aquamarinblauem Glas mit Luftblasen im Herzen, der die Sonne filterte wie Meerwasser und sich über den Tag hinweg veränderte wie ein Lebewesen. Morgens leuchtete er hell; gegen zehn erreichte das Funkeln seinen blitzenden Höhepunkt und verblasste dann gegen Mittag zu kühlem Jade. Ihre ganze Kindheit hindurch hatte Harriet lange, zufriedene Stunden damit verbracht, versonnen auf dem Boden zu sitzen, während das Licht in dem Briefbeschwerer flirrend emporschwebte, taumelte, bis es sank und auf den blaugrünen Wänden helle Tigerstreifen aufleuchteten, erst hier, dann da. Der geblümte Teppich mit seinem Rankenmuster war ein Spielbrett, ihr eigenes, privates Schlachtfeld. Ungezählte Nachmittage hatte sie auf Händen und Knien zugebracht und Spielzeugarmeen über diese verschlungenen grünen Pfade geführt. Über dem Kaminsims und das Gesamtbild beherrschend, hing das spukhafte alte, rauchige Foto von Haus
»Drangsal«: weiße Säulen, die gespenstisch aus schwarzem Immergrün ragten.
    Zusammen arbeiteten sie an dem Kreuzworträtsel weiter; Harriet hockte auf der Armlehne von Libbys chintzbezogenem Polstersessel. Die Porzellanuhr tickte sanft auf dem Kaminsims, immer dasselbe liebe, tröstliche alte Ticken, das Harriet ihr Leben lang gehört hatte. Das blaue Schlafzimmer war wie der Himmel mit seinem freundlichen Geruch nach Katzen und Zedernholz und staubigen Kleidern, nach Vetiverwurzel und Limes-de-Buras-Puder und einem violetten Badesalz, das Libby benutzte, so lange Harriet sich erinnern konnte. Alle alten Damen benutzten in Säckchen genähte Vetiverwurzel, um die Motten aus ihren Kleidern fern zu halten, und obwohl die anheimelnde Muffigkeit Harriet seit jeher vertraut war, lag immer noch ein Hauch von Geheimnis darin, etwas Trauriges und Fremdartiges – vermodernde Wälder oder Holzrauch im Herbst; es war der alte, dunkle Geruch der wuchtigen Kleiderschränke auf den Plantagen, der Geruch von Haus Drangsal, ja, der Geruch der Vergangenheit.
    »Das Letzte!«, rief Libby. »› Gelenkleiden ‹. Die ersten drei Buchstaben sind a-r-t .« Tap tap tap , zählte sie mit dem Bleistift die freien Felder.
    »Arthritis? «
    »Ja. Ach du liebe Güte... Moment. Das kommt nicht hin.«
    Sie rätselten schweigend.
    »Aha!«, rief Libby. »Arthrose .« Sorgfältig malte sie die Blockbuchstaben mit ihrem stumpfen Bleistift in die Kästchen. »Fertig«, verkündete sie glücklich und nahm die Brille ab. »Danke, Harriet.«
    »Gern geschehen«, sagte Harriet knapp; sie ärgerte sich unwillkürlich darüber, dass es Libby gewesen war, die das letzte Wort gewusst hatte.
    »Ich weiß nicht, warum ich mir über diese dummen Kreuzworträtsel

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