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Der kleine Freund: Roman (German Edition)

Der kleine Freund: Roman (German Edition)

Titel: Der kleine Freund: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Donna Tartt
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aller Verwirrung in der Küche zum Trotz drehten die drei Frauen sich um und schauten sie an, so laut und seltsam hatte ihre Stimme geklungen.

    »Ida, was weißt du über Leute namens Ratliff?«, fragte Harriet am nächsten Tag.
    »Dass sie ’ne jämmerliche Bande sind«, sagte Ida und wrang ingrimmig ein Spültuch aus.
    Sie klatschte das ausgeblichene Tuch auf die Herdplatte.
Harriet saß auf dem breiten Sims des offenen Fensters und sah zu, wie sie gelassen die Fettspritzer von der morgendlichen Speck-und-Eier-Pfanne wegwischte und dabei summte und in tranceähnlicher Ruhe mit dem Kopf nickte. Diese Traumversunkenheit, die Ida erfasste, wenn sie eintönige Arbeiten zu verrichten hatte (Erbsen schälen, Teppiche klopfen, den Zuckerguss für eine Torte anrühren), war Harriet von klein auf vertraut und so beruhigend mitanzusehen wie ein Baum, der sich im Wind hin und her wiegte; aber sie war auch das unmissverständliche Signal, dass Ida in Ruhe gelassen zu werden wünschte. Sie konnte wütend werden, wenn man sie in dieser Stimmung störte. Harriet hatte schon erlebt, wie sie Charlotte und sogar Edie anfauchte, wenn eine von ihnen sich den falschen Augenblick aussuchte, um sie aufdringlich nach irgendeiner Belanglosigkeit zu fragen. Aber zu anderen Gelegenheiten, zumal wenn Harriet ihr eine schwierige oder geheimnisträchtige oder tiefgründige Frage stellen wollte, antwortete sie mit heiter gelassener, orakelhafter Offenheit, als stände sie unter Hypnose.
    Harriet verlagerte ihr Gewicht und zog ein Knie unters Kinn. »Was weißt du sonst noch?«, fragte sie und spielte angelegentlich mit der Schnalle ihrer Sandale. »Über die Ratliffs?«
    »Gibt nichts zu wissen. Hast sie ja selbst gesehen. Die Bande, die sich neulich in den Garten geschlichen hat.«
    »Hier?«, fragte Harriet nach kurzem, verwirrtem Schweigen.
    »Ja, Ma’am, gleich hier drüben... jawohl, du hast sie gesehen«, sagte Ida Rhew in leisem Singsangton, fast als rede sie mit sich selbst. »Und wenn’s ein paar kleine alte Ziegen wären, die hier rüberkommen und im Garten eurer Mama rumspielen – ich wette, ihr hättet immer noch Mitleid mit denen. ›Guck mal da. Guck mal, wie niedlich.‹ Und nicht lange, und ihr streichelt sie und spielt mit ihnen. ›Komm her, Mr. Ziegenbock, und friss ’n Stückchen Zucker aus meiner Hand.‹ ›Mr. Ziegenbock, du Schmutzfink, komm her, ich bade dich.‹ ›Armer Mr. Ziegenbock. ‹ Und bis euch klar ist«, fuhr sie gelassen fort, ohne auf Harriets Aufbegehren zu achten, »und bis euch klar ist, wie niederträchtig und fies die sind, werdet ihr sie nicht mehr los,
und wenn ihr sie prügelt. Dann reißen sie die Wäsche von der Leine und trampeln in den Beeten rum und blöken und meckern und schreien die ganze Nacht... Und was sie nicht fressen, treten sie in die Erde. ›Los! Gib uns noch mehr!‹ Glaubst du, die sind je zufrieden? Nein, das sind sie nicht. Aber ich sag dir«, Ida schaut mit ihren rot geränderten Augen zu Harriet herüber, »ich hab lieber ’ne Herde Ziegen als ’ne Bande von kleinen Ratliffs, die dauernd rumrennen und betteln und haben wollen.«
    »Aber Ida...«
    »Niederträchtig! Dreckig!« Mit einer drolligen kleinen Grimasse wrang Ida ihr Putztuch aus. »Dauert nicht lange, und du hörst bloß noch: haben, haben, haben. ›Gib mir dies.‹ ›Kauf mir jenes.‹«
    »Aber diese Kids waren keine Ratliffs, Ida. Die neulich hier waren.«
    »Seht euch bloß vor.« Resigniert wandte sich Ida wieder ihrer Arbeit zu. »Eure Mutter läuft andauernd raus und verschenkt eure Kleider an diesen und an jenen – an jeden, der hier rumlungert. Nach ’ner Weile werden sie sich gar nicht mehr die Mühe machen, noch zu fragen. Sie werden sich einfach nehmen, was sie haben wollen.«
    »Ida, das waren Odums. Die Kids im Vorgarten.«
    »Egal. Keins von denen kann zwischen Recht und Unrecht unterscheiden. Wenn du jetzt eins von diesen kleinen Odums wärst«, sie schwieg kurz und faltete ihren Lappen zusammen, »und eure Mutter und euer Daddy nie ’n Finger zum Arbeiten rühren würden, und wenn sie euch beibringen würden, dass nichts dran auszusetzen ist, wenn man raubt und hasst und stiehlt und sich einfach nimmt, was man haben will? Hmm? Dann würdet ihr nichts anderes kennen als Rauben und Stehlen. No, Sir. Ihr würdet denken, da ist nichts dran auszusetzen.«
    »Aber...«
    »Ich sag nicht, dass es nicht auch schlechte Schwarze gibt. Gibt schlechte Schwarze und schlechte Weiße... Ich weiß bloß

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