Der kleine Freund: Roman (German Edition)
so sehr den Kopf zerbreche, aber ich glaube, sie helfen mir, meinen Verstand wach zu halten. An den meisten Tagen schaffe ich sie nur zu drei Viertel.«
»Libby ...«
»Lass mich raten, was du sagen willst, Liebes. Wollen wir nicht mal nachsehen, ob Odeans Torte schon aus dem Ofen gekommen ist?«
»Libby, warum will kein Mensch mir irgendetwas darüber erzählen, wie Robin gestorben ist?«
Libby legte die Zeitung hin.
»Ist vorher irgendetwas Merkwürdiges passiert?«
»Etwas Merkwürdiges, Darling? Was um alles in der Welt meinst du damit?«
»Irgendetwas...« Harriet suchte nach Worten. »Ein Hinweis.«
»Ich weiß nichts von einem Hinweis«, sagte Libby nach einer seltsam stillen Pause. »Aber wenn du etwas Merkwürdiges hören willst: Mit das Merkwürdigste, was mir jemals im Leben passiert ist, hat sich ungefähr drei Tage vor Robins Tod zugetragen. Hast du je die Geschichte von dem Männerhut gehört, den ich in meinem Schlafzimmer gefunden habe?«
»Oh«, sagte Harriet enttäuscht. Die Geschichte von dem Hut auf Libbys Bett hatte sie ihr Leben lang immer wieder gehört.
»Alle hielten mich für verrückt. Ein schwarzer Männerhut! Größe acht! Ein Stetson! Und ein schöner Hut, ohne verschwitztes Band. Und er erschien am helllichten Tag auf dem Fußende meines Bettes.«
»Du hast aber nicht gesehen, wie er erschien«, sagte Harriet gelangweilt. Sie hatte die Geschichte von diesem Hut ungefähr hundertmal gehört, und niemand außer Libby fand sie besonders geheimnisvoll.
»Darling, es war an einem Mittwochnachmittag um zwei Uhr...«
»Jemand ist ins Haus gekommen und hat ihn dort liegen lassen.«
»Nein, nein, das kann nicht sein. Wir hätten ihn doch gesehen oder gehört. Odean und ich waren die ganze Zeit im Haus. Ich war nach Daddys Tod eben von ›Drangsal‹ hierher umgezogen, und Odean war keine zwei Minuten vorher im Schlafzimmer gewesen, um saubere Wäsche wegzuräumen. Und da war noch kein Hut da gewesen.«
»Vielleicht hat Odean ihn hingelegt.«
»Odean hat diesen Hut nicht dort hingelegt. Geh nur, und frag sie.«
»Na, irgendjemand hat sich reingeschlichen«, sagte Harriet ungeduldig. »Du und Odean, ihr habt ihn einfach nicht gehört.« Die sonst wenig mitteilsame Odean erzählte die Geschichte vom Geheimnis des schwarzen Hutes ebenso gern und oft wie Libby, und ihre Geschichten waren die gleichen (allerdings stilistisch sehr unterschiedlich: Odeans Version war sehr viel kryptischer und mit häufigem Kopfschütteln und langen Schweigepausen untermalt).
»Ich sage dir, mein Herz«, Libby beugte sich hellwach in ihrem Sessel vor, »Odean ging unentwegt überall im Haus hin und her und räumte die Wäsche ein, und ich war im Flur und habe mit deiner Großmutter telefoniert, und die Tür zum Schlafzimmer stand weit offen, und ich konnte hineinschauen – nein, nicht durchs Fenster«, fuhr sie über Harriets Einwurf hinweg fort, »die Fenster waren verriegelt und die Sturmläden fest geschlossen. Niemand hätte in dieses Schlafzimmer gelangen können, ohne dass Odean und ich ihn gesehen hätten.«
»Jemand hat euch einen Streich gespielt«, sagte Harriet. Edie und die Tanten waren übereinstimmend dieser Auffassung, und Edie hatte Libby mehr als einmal in Tränen ausbrechen (und Odean in wütendes Schmollen verfallen) lassen, indem sie boshaft angedeutet hatte, dass Libby und Odean wahrscheinlich am Kochsherry genippt hätten.
»Und was für ein Streich soll das gewesen sein?« Libby fing an, sich aufzuregen. »Einen schwarzen Herrenhut auf meinem Fußende liegen zu lassen? Es war ein teurer Hut. Ich war damit im Textilgeschäft, und sie haben mir gesagt, sie wüssten niemanden in Alexandria oder sonst wo, außer in Memphis, der solche Hüte verkauft. Und siehe da – drei Tage, nachdem ich den Hut in meinem Haus gefunden hatte, war der kleine Robin tot.«
Harriet dachte schweigend darüber nach. »Aber was hat das mit Robin zu tun?«
»Darling, die Welt ist voll von Dingen, die wir nicht verstehen.«
»Aber warum ein Hut?«, fragte Harriet nach einer ratlosen Pause. »Und warum sollten sie ihn in deinem Haus liegen lassen? Ich sehe da keinen Zusammenhang.«
»Ich will dir noch eine Geschichte erzählen. Als ich noch draußen in ›Drangsal‹ wohnte«, sagte Libby und faltete die Hände, »da gab es eine sehr nette Frau namens Viola Gibbs, die im Kindergarten in der Stadt arbeitete. Ich schätze, sie war Ende zwanzig. Na ja. Eines Tages kam Mrs. Gibbs durch die Hintertür
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