Der kleine Freund: Roman (German Edition)

eins: Ich hab keine Lust, mich mit irgendwelchen Odums abzugeben,
und ich hab keine Lust, mich mit irgendwem abzugeben, der immer bloß an das denkt, was er nich hat und wie er’s von jemand anders kriegen kann. No, Sir. Wenn ich’s mir nicht verdient hab«, erklärte Ida feierlich und hob ihre feuchte Hand, »und wenn ich’s nicht habe, dann will ich’s auch nicht haben. No, Ma’am. Ich will’s nicht haben. Ich geh einfach vorbei.«
    »Ida, die Odums sind mir egal .«
    »Die sollten dir alle egal sein.«
    »Ja, sind sie auch.«
    »Freut mich zu hören.«
    »Ich will was über die Ratliffs wissen. Was kannst du mir ...«
    »Ich kann dir erzählen, dass sie das Enkelkind meiner Schwester mit Ziegelsteinen beschmissen haben, als es in der ersten Klasse zur Schule ging«, sagte Ida knapp. »Was sagst du dazu? Große, erwachsene Männer. Schmeißen mit Ziegelsteinen und brüllen Nigger und Geh zurück in den Urwald bei so ’nem armen Kind.«
    Harriet schwieg entsetzt. Sie blickte nicht auf, sondern fummelte weiter am Riemen ihrer Sandale herum. Bei dem Wort Nigger  – erst recht, wenn es von Ida kam – wurde sie rot.
    »Ziegelsteine!« Ida schüttelte den Kopf. »Von dem Flügel, den sie damals an die Schule angebaut haben. Und ich schätze, die waren auch noch stolz drauf. Aber niemand darf’n kleines Kind mit Ziegelsteinen beschmeißen; das ist einfach nicht richtig. Zeig mir, wo in der Bibel steht: Du sollst deinen Nächsten mit Ziegelsteinen beschmeißen . Hm? Kannst den ganzen Tag suchen, und du wirst es nicht finden, weil es nämlich nicht drinsteht.«
    Harriet fühlte sich sehr unbehaglich. Sie gähnte, um ihre Ratlosigkeit und ihre Bestürzung zu tarnen. Sie und Hely gingen auf die Alexandria Academy wie fast alle weißen Kinder im County. Sogar die Odums und Ratliffs und Scurlees hungerten sich praktisch zu Tode, nur um ihre Kinder aus den staatlichen Schulen herauszuhalten. Gewiss würden Familien wie Harriets (oder Helys) es niemals akzeptieren, dass jemand mit Ziegelsteinen auf Kinder warf, ob sie nun weiß oder schwarz waren (»oder lila«, wie Edie bei Diskussionen über
Hautfarbe immer gern einzuwerfen pflegte). Und doch ging Harriet auf diese rein weiße Schule.
    »Diese Kerle nennen sich Prediger. Spucken da draußen rum und nennen das arme Kind Bimbo und Urwaldaffe und was weiß ich. Aber es kann keinen Grund geben, weshalb ein Erwachsener so ’nem kleinen Kind was tut«, sagte Ida Rhew grimmig. »Das lehrt die Bibel. ›Wer aber ärgert dieser Geringsten einen ...‹«
    »Sind sie verhaftet worden?«
    Ida Rhew schnaubte.
    »Ja oder nein?«
    »Manchmal behandelt die Polizei die Verbrecher besser als die, gegen die sich das Verbrechen richtet.«
    Harriet dachte nach. Soweit sie wusste, war den Ratliffs wegen der Rumballerei am Bach nichts passiert. Anscheinend konnten sich diese Leute alles erlauben.
    »Aber es ist gegen das Gesetz, dass jemand in der Öffentlichkeit mit Ziegelsteinen wirft«, sagte sie laut.
    »Völlig schnuppe. Die Polizei hat nichts gemacht, als die Ratliffs die Kirche der Baptistenmission angezündet haben, oder? Als du noch ein Baby warst? Nachdem Dr. King in der Stadt gewesen war? Sind einfach vorbeigefahren und haben ’ne Whiskeyflasche mit’nem brennenden Lappen durchs Fenster reingeworfen.«
    Ihr ganzes Leben lang hatte Harriet immer wieder von diesem Kirchenbrand gehört – und von anderen, in anderen Städten in Mississippi, die sie nicht mehr auseinander halten konnte –, aber nie hatte man ihr gesagt, dass die Ratliffs dafür verantwortlich gewesen waren. Man sollte meinen (fand Edie), dass Neger und arme Weiße einander nicht so sehr hassten, wie sie es taten, denn sie hätten doch so viel gemeinsam, vor allem ihre Armut. Aber für erbärmliches weißes Volk wie die Ratliffs gab es außer den Negern niemanden, auf den sie herabblicken konnten. Sie ertrugen den Gedanken nicht, dass die Neger jetzt genauso gut waren wie sie – und in vielen Fällen sehr viel wohlhabender und angesehener. »Ein armer Neger hat wenigstens seine Herkunft als Entschuldigung«, sagte
Edie. »Der arme Weiße kann für seine Lage nur noch den eigenen Charakter verantwortlich machen. Na, aber das geht natürlich nicht. Das würde bedeuten, dass er die Verantwortung für seine eigene Faulheit und sein jämmerliches Verhalten übernimmt. Nein, viel lieber stapft er durch die Gegend und lässt Kreuze brennen und gibt dem Neger die Schuld an allem, als dass er versucht, eine