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Der kleine Freund: Roman (German Edition)

Der kleine Freund: Roman (German Edition)

Titel: Der kleine Freund: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Donna Tartt
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erregte.
    Beide Kinder waren entsetzt. Wachsam umkreisten sie die Schlange, die Gabelstöcke weit vor sich gestreckt, und sprangen auf sie zu und ebenso schnell wieder zurück, wenn das Ding herumfuhr, um wieder zuzustoßen und sie bald hierhin, bald dorthin zu treiben. Harriet hatte solche Angst, dass sie glaubte, sie werde in Ohnmacht fallen. Hely stach mit dem Stock zu und traf nicht; die Schlange fuhr peitschend herum und attackierte ihn mit ihrer vollen Länge, und mit einem erstickten Aufschrei stieß Harriet ihr den Gabelstock in den Nacken. Sofort und mit schockierender Wut begann der restliche halbe Meter der Schlange, um sich zu schlagen, als sei sie vom Teufel besessen. Fassungslos vor Ekel sprang Harriet zurück, damit der Schwanz ihr nicht gegen die Beine klatschte. Mit kräftigem Muskel ringelte das Ding sich aus der Gabel – auf Hely zu, der zur Seite tanzte und kreischte wie am Spieß – und schoss dann davon in das verdorrte Unkraut.
    Ein Wort über Oak Lawn Estates: Wenn in der George Street ein Kind – oder sonst irgendjemand – so lang und schrill und laut geschrien hätte, wären Mrs. Fountain, Mrs. Godfrey,
Ida Rhew und ein halbes Dutzend Haushälterinnen im Handumdrehen aus ihren Häusern gestürzt (»Kinder! Lasst die Schlange in Ruhe! Weg da!«). Und sie hätten es ernst gemeint und sich keine Widerreden gefallen lassen, und wenn sie wieder in ihre Häuser zurückgekehrt wären, hätten sie an ihren Küchenfenstern Wache gestanden, um sicherzugehen. Aber in Oak Lawn Estates war das anders. Die Häuser hier wirkten auf beängstigende Weise versiegelt, wie Bunker oder Mausoleen. Die Leute kannten einander nicht. Hier draußen konnte man sich die Lunge aus dem Leib schreien, irgendein Sträfling konnte einen mit einem Stück Stacheldraht erwürgen, und niemand würde herauskommen, um nachzusehen, was los war. In der intensiven, hitzeflirrenden Stille wehte das manische Gelächter einer Fernseh-Gameshow geisterhaft aus dem nächstgelegenen Haus, einer verrammelten Hacienda, die abweisend auf einem Lehmgrundstück gleich hinter den Kiefernholzskeletten kauerte. Dunkle Fenster. Ein glänzender neuer Buick parkte auf dem Sand im Carport.
    Wer wohnte in diesem Haus?, dachte Harriet benommen und beschirmte sich die Augen mit einer Hand. Ein Trinker, der nicht zur Arbeit gegangen war? Irgendeine träge Junior-League-Mutter wie die schlampigen jungen Dinger, bei denen Allison manchmal hier draußen als Babysitter arbeitete, die da in einem verdunkelten Zimmer lag, bei laufendem Fernseher und mit Bergen von schmutziger Wäsche?
    »Der Preis ist heiß kann ich nicht ausstehen«, sagte Hely. Leise aufstöhnend, taumelte er rückwärts und schaute dabei mit aufgeregten, ruckhaften Bewegungen auf den Boden.
    »Ich sehe gern Risiko.«
    Hely hörte nicht zu. Energisch drosch er mit seinem Gabelstock auf das dürre Gras. »From Russia with love... « sang er schmachtend, und dann, weil er den Text nicht kannte, noch einmal: »From Russia with LOVE...«
    Sie brauchten nicht lange zu suchen, bis sie die vierte Schlange fanden: eine Mokassinschlange: wachsig, lebergelb, nicht länger als die Kupferköpfe, aber dicker als Harriets Arm. Hely, der trotz seiner Angst darauf bestand, vor Harriet zu gehen,
wäre beinahe auf sie getreten. Wie eine Sprungfeder zuckte sie hoch und stieß zu, und nur knapp verfehlte sie seine Wade. Helys Reflexe waren von der vorigen Begegnung wie elektrisiert; er sprang zurück und nagelte sie mit seinen Stock auf Anhieb fest. »Ha!«, schrie er.
    Harriet lachte laut; mit zitternden Fingern nestelte sie an der Schließe ihrer Campus Queen- Lunchbox. Diese Schlange war langsamer und weniger behände. Gereizt schwenkte sie ihren dicken Leib in einem abscheulichen, unreinen Gelb über den Boden hin und her. Aber sie war viel größer als die Kupferköpfe: Würde sie in die Campus Queen passen? Hely, der vor lauter Angst ebenfalls lachte, schrill und hysterisch, spreizte die Finger und bückte sich, um sie zu packen ...
    »Der Kopf!«, schrie Harriet und ließ die Lunchbox klappernd zu Boden fallen.
    Hely sprang zurück. Der Stock fiel ihm aus der Hand. Die Mokassinschlange lag still. Dann hob sie sehr geschmeidig den Kopf und musterte sie einen langen, eiskalten Augenblick lang mit ihren geschlitzten Pupillen, ehe sie das Maul aufriss (gespenstisch weiß das Innere) und auf sie losging.
    Sie machten kehrt und rannten davon, stießen gegeneinander  – hatten Angst, in einen Graben

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