Der kleine Freund: Roman (German Edition)
zusetzt, aber wenn sie mal irgendwo leben, wo es ihnen gefällt, kommen sie früher oder später zurück.«
Hely musste daran denken, wie oft er die Abkürzung durch diese Hecke genommen hatte. Ohne Schuhe. Laut sagte er: »Kennst du das ›Schlangenparadies‹, diesen Vergnügungspark draußen am alten Highway? Wo der Versteinerte Wald ist? Da
ist auch ’ne Tankstelle. Die führt so ’n unheimlicher alter Knabe mit Hasenscharte.«
Harriet dreht sich um und starrte ihn an. »Da warst du schon?«
»Ja.«
»Soll das heißen, deine Mutter hat da angehalten?«
»Du liebe Güte, nein.« Jetzt war Hely ein wenig verlegen. »Nur Pem und ich. Auf dem Rückweg von einem Baseballspiel.« Sogar Pemberton, sogar Pem war eigentlich nicht erpicht darauf gewesen, am ›Schlangenparadies‹ anzuhalten. Aber sie hatten kein Benzin mehr gehabt.
»Ich hab noch niemanden getroffen, der wirklich schon da war.«
»Der Mann ist auch Furcht erregend. Er hat die Arme von oben bis unten mit Schlangen tätowiert.« Und voller Narben, als wäre er schon oft gebissen worden. Hely hatte sie gesehen, als der Mann den Tank füllte. Und keine Zähne, aber auch kein Gebiss – was seinem Grinsen ein weiches, schreckliches, schlangenhaftes Aussehen verlieh. Und das Schlimmste war, dass eine Boa constrictor um seinen Hals gelegen hatte: Willst du ihn mal streicheln, Söhnchen?, hatte er gefragt, sich in den Wagen gebeugt und Hely mit seinen flachen, sonnenblinden Augen festgenagelt.
»Wie ist es denn da? Im ›Schlangenparadies‹?«
»Stinkt. Nach Fisch. Ich hab eine Boa constrictor angefasst«, fügte er hinzu. Er hatte nicht gewagt, sich zu weigern, vor lauter Angst, der Schlangenmann könnte das Tier auf ihn werfen. »Sie war kalt. Wie ein Autositz im Winter.«
»Wie viele Schlangen hat er denn?«
»Oh, Mann. Schlangen in Aquarien, die ganze Wand entlang. Dann noch tonnenweise Schlangen, die einfach frei herumliegen. Draußen in dem eingezäunten Teil, der Rattlesnake Ranch heißt. Da war noch ein Gebäude hinten, dessen Wände ganz mit Wörtern und Bildern und Müll bemalt waren.«
»Und warum sind sie nicht herausgekommen?«
»Weiß ich nicht. Sie haben sich nicht allzu viel bewegt. Irgendwie sahen sie krank aus.«
»Ich will aber keine kranke Schlange.«
Hely hatte einen seltsamen Einfall. Wie wäre es wohl, wenn Harriets Bruder nicht gestorben wäre, als sie klein war? Wenn er noch lebte, wäre er vielleicht wie Pemberton, würde sie ärgern und dauernd an ihre Sachen gehen. Wahrscheinlich würde sie ihn nicht mal besonders mögen.
Er zog sein gelbes Haar mit der einen Hand in einem Pferdeschwanz hoch und fächelte sich mit der anderen den Nacken. »Ich hätte lieber eine langsame Schlange als eine von den schnellen, die hinter deinem Arsch hersausen«, sagte er fröhlich. »Einmal hab ich im Fernsehen was über Schwarze Mambas gesehen. Die sind über drei Meter lang. Und weißt du, was die machen? Die richten sich mit den ersten zweieinhalb Metern auf und jagen dich mit zwanzig Meilen pro Stunde, das Maul weit aufgerissen, und wenn sie dich eingeholt haben«, sagte er und übertönte Harriets Stimme, »weißt du, was sie dann machen? Sie stoßen dir mitten ins Gesicht.«
»Hat er eine davon?«
»Er hat alle Schlangen der Welt. Außerdem, das hab ich vergessen zu sagen: Die sind so giftig, dass du innerhalb von zehn Sekunden tot bist. Vergiss das Schlangenserum. Du bist erledigt.«
Harriets Schweigen war überwältigend. Mit ihren dunklen Haaren, und wie sie die Arme so um die Knie geschlungen hatte, sah sie aus wie ein kleiner chinesischer Pirat.
»Weißt du, was wir brauchen?«, sagte sie plötzlich. »Ein Auto.«
»Yeah!«, sagte Hely strahlend nach einer kurzen, verdatterten Pause, und er verfluchte sich dafür, dass er vor ihr geprahlt hatte, er könne Auto fahren.
Er warf ihr einen Seitenblick zu, lehnte sich mit durchgedrückten Armen, auf die Handflächen gestützt, zurück und schaute zu den Sternen hinauf. Kann ich nicht oder nein war niemals das, was man gern zu Harriet sagte. Er hatte gesehen, wie sie von Dächern gesprungen war, wie sie Kinder angegriffen hatte, die doppelt so groß waren wie sie, und wie sie bei den
Schutzimpfungen im Kindergarten die Krankenschwestern gebissen und getreten hatte.
Er wusste nicht, was er sagen sollte, und rieb sich die Augen. Er war schläfrig, aber auf unangenehme Weise – erhitzt und kribbelig und als ob er Alpträume bekommen würde. Er dachte an die abgehäutete
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