Der kleine Freund: Roman (German Edition)

Klapperschlange, die er im »Schlangenparadies« an einem Zaunpfahl hatte hängen sehen: rote Muskelstränge, durchzogen von blauen Adern.
    »Harriet«, sagte er laut, »wäre es nicht einfacher, die Cops anzurufen?«
    »Das wäre viel einfacher«, sagte sie, ohne aus dem Takt zu kommen, und eine Woge der Zuneigung durchflutete ihn. Die gute alte Harriet: Man konnte mit den Fingern schnippen und das Thema wechseln, einfach so – und, zack, da war sie, ohne den Anschluss zu verlieren.
    »Dann sollten wir das tun, finde ich. Wir können die Telefonzelle bei der City Hall benutzen und sagen, wir wissen, wer deinen Bruder umgebracht hat. Ich kann genau wie eine alte Frau sprechen.«
    Harriet sah ihn an, als habe er den Verstand verloren.
    »Warum soll ich ihn von anderen Leuten bestrafen lassen?«
    Ihr Gesichtsausdruck bereitete ihm Unbehagen. Hely schaute weg. Sein Blick fiel auf das fettige Papierhandtuch auf der Treppenstufe, auf dem das angebissene Stück Torte lag. Die Wahrheit war, dass er tun würde, was sie von ihm verlangte, was immer es sein würde, und dass sie es beide wussten.

    Der Kupferkopf war klein, kaum mehr als dreißig Zentimeter lang und bei weitem die kleinste der fünf Schlangen, die Hely und Harriet an diesem Vormittag innerhalb von einer Stunde gefunden hatten. Sie lag sehr still in schlaffer S-Form in dem spärlichen Unkraut, das aus einem Haufen Bausand an der Stichstraße in den Oak Lawn Estates spross, einer Siedlungsanlage draußen hinter dem Country Club.
    Die Häuser in Oak Lawn waren allesamt noch keine sieben
Jahre alt, teils im Pseudo-Tudor-, teils im Blockhausstil, teils auch modern, und eins oder zwei sogar wie Südstaatenvillen aus der Ära vor dem Bürgerkrieg, aus neuen, leuchtend roten Ziegeln und mit angeklebten Ziersäulen an den Fassaden. Obwohl die Häuser groß und ziemlich teuer waren, muteten sie in ihrer Neuheit geschmacklos und abweisend an. Im hinteren Teil der Siedlung, wo Hely und Harriet ihre Fahrräder geparkt hatten, waren viele Häuser noch im Bau – kahle, abgesteckte Parzellen mit Stapeln von Teerpappe und Holz, Gipskarton und Isolationsplatten, eingeklammert von Skeletten aus neuem, gelbem Kiefernholz, durch die der Himmel fiebrig blau herunterströmte.
    Anders als in der schattigen alten George Street, die vor der Jahrhundertwende angelegt worden war, gab es hier nur wenige Bäume von nennenswerter Größe und überhaupt keine Gehwege. Buchstäblich jeder Fetzen Vegetation war Kettensägen und Bulldozern zum Opfer gefallen: Wassereichen und Pfahleichen, von denen einige nach Auskunft eines Baumkundlers von der State University, der ein vergebliches Unternehmen zu ihrer Rettung angeführt hatte, schon dagestanden hatten, als La Salle 1682 den Mississippi heruntergekommen war. Der größte Teil des Mutterbodens, den ihre Wurzeln festgehalten hatten, war in den Bach und den Fluss hinuntergespült worden. Der harte Untergrund war von Bulldozern zu einer niedrig gelegenen Ebene planiert worden, und auf der kargen, sauer riechenden Erde, die übrig war, wuchs nur wenig. Gras spross spärlich, wenn überhaupt, und die mit Lastwagen angelieferten Magnolien und Hartriegelsträucher welkten schnell dahin und erstarben zu dürren Stöcken, die aus hoffnungsvollen Mulchkreisen mit dekorativen Umrandungen ragten. Die hart gebrannten Lehmflächen, rot wie der Mars und übersät von Sand und Sägemehl, grenzten schroff an die Kante der Asphaltstraße, die so schwarz und so neu war, dass sie immer noch klebrig aussah. Dahinter, im Süden, begann ein unbändiger Sumpf, der in jedem Frühling anschwoll und die Siedlung überflutete.
    Die Häuser in Oak Lawn Estates gehörten großenteils Auf
steigern: Bauunternehmern, Politikern und Immobilienmaklern, ehrgeizigen jungen Ehepaaren, die ihrer Landarbeiterherkunft aus den Kleinstädten der Piny Woods und den Bergen zu entkommen suchten. Wie von Hass auf ihre ländlichen Ursprünge getrieben, hatten sie methodisch jede verfügbare Fläche gepflastert und jeden einheimischen Baum herausgerissen.
    Aber Oak Lawn hatte für diese brutale Einebnung Rache genommen. Das Land war sumpfig und sirrte von Moskitos. Löcher füllten sich mit brackigem Wasser, sobald man sie gegraben hatte. Die Kanalisation lief voll, wenn es regnete; sagenhaft schwarzer Schlamm quoll dann aus den nagelneuen Toiletten und tropfte aus Wasserhähnen und schicken Massage-Duschköpfen. Weil der ganze Mutterboden abgetragen war, mussten unzählige