Der kleine Koenig Dezember
stünde ich dann vielleicht in der Nachbarwohnung, staubbedeckt in einem fremden Esszimmer, und eine ratlose Familie würde vom Abendessen aufblicken und michbetrachten. »Entschuldigung«, würde ich leise und verlegen sagen, »ich wollte doch nur nach dem kleinen König sehen.«
Der König Dezember hat einmal zu mir gesagt: »Warum willst du hinter die Wände gucken, statt dir vorzustellen, was hinter den Wänden sein könnte? Warum willst du dich nicht hinsetzen und die Augen schließen und dir selbst die Bilder einer Welt ausdenken? Als du klein warst, konntest du es, mit offenen Augen sogar. Hast du das vergessen? Warum hast du es vergessen?«
Ich sitze also an diesen Wintertagen so still, wie es nur geht, in meinem Sessel, und als ich das neulich tat, kam der König hinter meinem Regal hervor. Er ging nicht gleich zu mir, sondern erst auf die andere Seite des Zimmers, dorthin, wo ich ein paar alte Spielzeugautos herumstehen habe. Sie sind mir aus der Zeit geblieben, als ich dreizehn war, und ich habe nie einen Grund gesehen, sie wegzuschmeißen.
Der König öffnete die Tür eines alten Mercedes-Lasters und stieg ein. Dieser Mercedes-Laster ist blau und hat rote Stoßstangen und eine ziemlich kurze Ladefläche. Auf seinem Dach sitzen zwei gelbe Blinklichter, und hinten ist an einem großen roten Haken ein merkwürdiger Anhänger befestigt, der ganz flach ist, zwölf Räder hat und zum Transport von Eisenbahnwaggons gedacht ist, wenn die Waggons einmal irgendwohin müssen, wo es keine Schienen gibt. Jetzt war der Anhänger leer.
Der König warf das angebissene Gummibärchen, das er dabei hatte, auf die Ladefläche. Weil er beinahe noch ein bisschen zu groß und auch zu fett ist für den Laster, quetschte er sich mühsam insFührerhäuschen, ächzte, stöhnte, fluchte dabei und rief, er sehne den Tag herbei, an dem er endlich klein genug sei, um bequem in ein Spielzeugauto einsteigen zu können. Dann warf er den Motor an, und mit einem leisen Dieseldieselgeräusch rumpelte der Laster über den Parkettboden zu meinem Sessel hinüber.
Als er neben meinem rechten Fuß angekommen war, kurbelte der König die Scheibe herunter, beugte sich hinaus und rief: »Heda! Heute haben wir noch zu tun!«
»Was denn?«, fragte ich.
»Wir müssen dem großen Bilderhaber ein Bild liefern.«
»Dem großen Bilderhaber?«, fragte ich.
»Kennst du den großen Bilderhaber nicht?«, fragte der König.
»Nein«, sagte ich. »Ich habe noch nie von ihm gehört.«
»Der große Bilderhaber ist sehr reich, und er wohnt in der Nähe deines Kachelofens«, sagte der König. »Niemand besitzt so viele Bilder wie er.«
»Und warum musst du ihm dann noch eines liefern?«, fragte ich.
»Das weißt du doch«, sagte der König, »dass die Könige dann und wann ein Bild verkaufen müssen, um überleben zu können.«
»Und was bekommst du dafür?«, fragte ich.
»Gummibärchen«, sagte der König. »Ich habe nur noch das eine, das auf dem Laster liegt. Wollen wir aber erst noch ein bisschen spielen?«
Der König und ich spielen fast jeden Tag zusammen, Mikado zum Beispiel: Er schleppt die Stäbchen herum wie große Balken. Oder Schach! Dezember ist immer sein eigener König. Spielt er mit Weißund hat einen Zug gemacht, geht er auf das Feld zurück, auf das der weiße König gerade gehört, und wartet meinen Zug ab. Wenn er aufgibt, lässt er sich theatralisch fallen und ruft:
»…deine freche Hand
Befleckt mit Königs Blut des Königs Land.«
Wenn er gewinnt, schubst er meinen König mit ausgestreckten Armen um und schreit:
»Hier, mördrischer, blutschändrischer, verruchter Däne! Trink diesen Trank aus!…«
»Ich denke, ihr vergesst alles, je älter und kleiner ihr werdet«, sagte ich da einmal. »Den Shakespeare nicht?«
»Richard der Zweite!«, rief Dezember. »Und Claudius, König von Dänemark – solche Kollegen vergisst man nicht!«
An diesem Tag sagte der König aber, er brauche Bewegung. Ich kramte das Tipp-Kick hervor, ein kleines Fußballspiel, bei dem die Kicker ein flexibles Bein haben und einen Knopf auf dem Kopf, den man drücken muss, wenn sie mit diesem Bein schießen sollen. Dem König muss man natürlich nicht auf den Kopf drücken. Er legte seinen schweren roten Mantel ab, dribbelte und drabbelte im Unterhemd übers grüne Feld, und wenn er ein Tor geschossen hatte, küsste er seine Metallmitspieler ab und ließ sich keuchend fallen. Weil er so fett ist, geht ihm beim Fußball immer schnell die Puste
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