Der kleine Koenig von Bombay
da! Arzee schloss den obersten Hemdknopf, fuhr sich mit den Fingern durchs Haar und ging hinunter. Die Schwingtür quietschte erneut, als er hineinging.
»Hallo, Mister Abjani, Sir! Sie wollten mich sprechen?«
»Ah … Arzee.«
Abjani stand an einem Schrank, den er sofort zumachte, als läge eine Leiche darin. Abjani sah sehr eigenartig aus – auch nach all den Jahren hatte sich Arzee immer noch nicht daran gewöhnt, wie eigenartig er aussah. Abjani war schon fast so lange im Noor wie Phiroz. Aber während Phiroz wie ein ganz normaler alter Mann aussah, hatte Abjani dadurch, dass er jahrelang im künstlichen Licht einer Schuhschachtel von einem Büro gesessen hatte, etwas Fahles, Schwindsüchtiges, das seine merkwürdige Figur und Körperhaltung noch hervorhob. Ungeachtet seiner Stirnglatze trug er sein schwarzgefärbtes, an den Wurzeln weißes Haar hinten lang wie ein Jugendlicher. Die Augen hinter seiner dicken Brille, die auf einer ständig zuckenden langen Nase saß, waren wässrig und kummervoll. Spindeldürr wie er war, schienen seine Gliedmaßen nur lose miteinander verbunden, und seine unglaublich schmale Taille hätte von dem Gürtel, der sie zusammenschnürte, eigentlich zerdrückt werden müssen. Doch seine Stimme war nicht etwa zittrig und zögernd, wie sein Körperbau es erwarten ließ, sondern im Gegenteil überraschend fest und tief. Abjani hatte seine Eigenheiten – Arzee wusste, dass in seinem Schrank ein Stapel Hefte lag, in denen Leute seltsame Dinge miteinander anstellten –, aber im Großen und Ganzen war er schon in Ordnung.
»Äh – geht’s gut?« Abjani machte immer gern erst etwas Smalltalk, sozusagen als Aufwärmübung, bevor er das eigentliche Thema ansprach.
»Der Babur muss mal überholt werden«, sagte Arzee. »Er frisst Kohlestifte wie nichts. Ich musste gestern eine neue Packung aufmachen, und die letzte ist erst zwei Monate her.«
»Aha«, sagte Abjani und rieb sich das Kinn. »Kohlestifte.«
»Der Babur wird alt, Sir, wie wir alle«, sagte Arzee lachend. »Schauen Sie sich nur Phiroz an. Mitten bei der Arbeit bleibt er stehen, murmelt irgendwas vor sich hin, erinnert sich dann nicht mehr daran, was er machen wollte, und redet noch ein bisschen mit sich selbst. Er mischt die Filmrollen, als wären es Spielkarten, und stellt eine neue Story zusammen. Ich glaube, unser Phiroz verliert allmählich den Verstand!«
»Genau darüber wollte ich mit Ihnen reden, Arzee. Phiroz … Phiroz wird uns bald verlassen. Er hat es Ihnen sicher schon gesagt.«
»Phiroz geht in den Ruhestand? Kein Wort hat er mir davongesagt. Das ist aber keine gute Nachricht, Sir – gar keine gute Nachricht! Ohne Phiroz geht es nicht.«
»Er ist wirklich alt geworden. Wie – äh – wir alle. Wir sind ein sehr, sehr altes Haus.«
»Deshalb ist es ja so schwer, es sich ohne ihn vorzustellen. Ohne den alten Phiroz wird das Noor nicht mehr das Noor sein.«
An dieser Stelle hielt Arzee inne und wartete auf die herzerwärmenden Worte, die nun folgen würden, so sicher, wie auf die zwölfte Filmrolle die Pause folgt. Er wollte den logischen Schluss nicht selbst verkünden – warum auch? Sollte Abjani es tun. Er selbst würde es später noch oft genug erzählen. Das erste Mal sollte Abjani die süßen Worte aussprechen!
Fünftes Kapitel
Phirozbhai und der große Lichtstrahl
E s war Nacht geworden – Nacht – Nacht! Die schwärzeste Nacht hatte sich niedergesenkt, als wäre der Himmel herabgestürzt, hatte die ureigene Düsternis des Noor unter sich begraben, sie aufgezehrt, verfinstert. Sie zerstörte die Gesundheit, untergrub alle Kraft, machte die Zukunft zunichte. Eine unerträgliche Nacht ohne Hoffnung oder Horizont, zerrissen von Seufzern und Klagelauten, ein verheerender, vernichtender Vorstoß gegen jegliche Vernunft. Tag, Licht, Zukunftsvisionen waren in solcher Nacht wie Träume, alle Richtungen waren sich gleich, und weder Wort noch Tat hatten irgendeine Bedeutung; Körper und Geist waren voneinander geschieden, Gliedmaßen und Sinne einander entfremdet. Wie bei einem unerwarteten, urplötzlichen Sturz in eine jählings klaffende, finstere Schlucht war sie eben noch nirgends und auf einmal überall. Nacht, Nacht, Nacht – Nacht an dem Ort, wo der Tag ohnehin schon Nacht war!
Die Tür von Abjanis Kammer öffnete sich, und Arzee stand wie betäubt auf der Schwelle. Die Tür schwang wieder zurück und knallte Arzee ins Gesicht. Er drückte sie erneut auf und ging, die Hand an die Stirn
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