Der kleine Koenig von Bombay
dass er durch diese Milchglastür ging! Wie die Gedanken aber auch immer schweiften! Sie konnten genauso wenig stillhalten wie die Luft. So wieder Körper unablässig atmete und die Erde sich unablässig drehte, so waren die Gedanken stets in Bewegung, flatterten aus der milden Witterung des Augenblicks den Stürmen von Glück und Schmerz, von Vergangenheit und Zukunft entgegen. Dashrath Tiwari hatte so recht mit dem, was er über das Denken und die Vorstellungskraft sagte.
Arzee hob den Kopf zum Himmel. Ein gelbes Blatt hatte sich von einem Ast gelöst und schwebte in langsamen gelben Pirouetten zu ihm herunter. Es landete auf der Straße und wurde von einem Autoreifen zermalmt. Unter einem Motorroller, der auf dem Bürgersteig geparkt war, ragte ein halber Hund hervor, der mit den Beinen strampelte. Es sah aus, als würde er gerade erwürgt, aber wahrscheinlich hatte er einfach nur Flöhe. Arzee stieß mit dem Fuß leicht gegen den rosa Bauch des Hundes, der prompt aufhörte zu zappeln. Vom ersten Stock eines Hauses aus beobachtete eine Frau Arzee. Er merkte, dass ihr Blick ihm folgte, und spürte, wie ihm warm wurde.
Er kam zu einem Etablissement, das vielversprechend wirkte. Ein dicker Türsteher lehnte in Gedanken versunken am Eingang, doch als er Arzee sah, löste er sich von dem hölzernen Türrahmen und grüßte. Arzee nickte und trat ein. Die Tür schloss sich hinter ihm, und er stand vor einer Treppe. Als er den Fuß auf die unterste Stufe setzte, ging über seinem Kopf ein Licht an. Sein Herz begann schneller zu schlagen. Hinter einer weiteren Tür am Ende der Treppe brannte feigenrotes Licht, und Musik spielte.
Auf halber Treppe hörte Arzee plötzlich panisches Frauengeschrei und blieb alarmiert stehen. Das war nicht die Sorte Erlebnis, die er suchte! Im nächsten Moment flog die Tür auf, und eine große Ratte wurde von einem Besen hinausbefördert.Sie krümmte sich absonderlich, während sie durch die Luft sauste, landete direkt vor Arzee, der kreischend zur Seite sprang, und schoss an ihm vorbei. Als er wieder nach oben schaute, starrten lauter geschminkte Gesichter zu ihm herunter wie in einen Brunnenschacht. Sie fassten sich jedoch rasch wieder und zogen sich zurück. Der grinsende Hausdiener hielt ihm die Tür auf.
»Tut mir sehr leid, Sir«, sagte er. »Bitte treten Sie ein.«
»Sie haben mir einen ganz schönen Schreck eingejagt«, sagte Arzee, die Hand auf dem Herzen.
Der Raum roch nach Alkohol, Erdnüssen und Parfum. Säulen verstellten den Blick auf mehrere schäbige Sofas, die lange, flache Tische flankierten. In einem Aquarium, das sich die eine Wand entlangzog, schlugen Fische von durchscheinendem Blau und Orange nonchalant mit dem Schwanz und spitzten das Maul wie zum Kuss. Die dick und grell geschminkten Frauen, die Arzee gerade gesehen hatte, standen nun plaudernd neben dem Aquarium, die Hände hinter dem Rücken verschränkt, und taxierten ihn diskret. Arzees Blick wanderte von einem Gesicht zum nächsten. Er war enttäuscht. Diese Mädchen waren dröge und reizlos. Nur eine sah so aus, als hätte sie ein bisschen Leben in sich.
Der Hausdiener führte Arzee zu einem Sofa. Arzee setzte sich und versuchte, größer zu wirken. Jetzt trat ein zweiter Hausdiener aus dem Schatten, bei dem Arzee zwei Whisky Soda bestellte, einen für sich und einen für das Mädchen in Blau – es sei denn, sie wollte lieber etwas anderes. Der Hausdiener nickte, blieb auf dem Weg zur Bar neben dem Mädchen stehen und flüsterte ihr etwas zu. Sie kam schüchtern herbei und setzte sich mit gesenktem Blick auf das Sofa ihm gegenüber, die Hände im Schoß. Die Musik wurde leiser gedreht.Arzee spürte die Blicke der anderen Mädchen auf sich. »Nicht nervös sein«, sagte er sich. »Nimm die Situation in die Hand!« Er heftete den Blick auf das Mädchen und fragte laut:
»Wie heißt du?«
»Renu.«
»Ha! Und wo kommst du her?«
»Aus Durgapur … in Westbengalen.«
Arzee fiel nichts anderes ein, was er fragen könnte, deshalb starrte er sie einfach weiter an, denn das durfte er hier – er bezahlte schließlich dafür. Er fühlte sich in diesem rötlichen Dunst bereits etwas desorientiert und verspürte ein seltsames Pochen in den Lenden, das einfach nicht nachlassen wollte. Renus Arme und Wangen waren eher füllig, und ihr Lippenstift war verschmiert. Ihr Haar war hochgebunden, so dass man ihre silbernen Ohrgehänge sah, pompös wie Kronleuchter. Ihr Oberteil ließ einen Hauch von Brustansatz sehen,
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