Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der kleine Koenig von Bombay

Der kleine Koenig von Bombay

Titel: Der kleine Koenig von Bombay Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Chandrahas Choudhury
Vom Netzwerk:
es kein Entrinnen mehr.
    Also ging er zu ihr, und sie bedeutete ihm mit einer Geste, dass er Platz nehmen solle. Er setzte einen Fuß auf das Trittbrett ihres hohen Stuhls und hievte sich mühsam hinauf. Mit baumelnden Beinen saß er unbequem da und betrachtete sein angespanntes, verkrampftes Gesicht im Spiegel.
    »Wie hätten Sie die Haare denn gern geschnitten?«, fragte Monique kaum hörbar.
    »Haare? Geschnitten?«, sagte eine Stimme – es war seine!
    »Wie hätten Sie die Haare denn gern geschnitten?« In genau demselben Ton.
    »Oh – wie Sie wollen! Wie Sie es mögen. Vielleicht an den Seiten und hinten etwas länger, wie wäre das? Aber Sie sind die Expertin – Sie wissen bestimmt, was schick aussehen würde.«
    Und ohne ein Nicken oder Lächeln oder anderweitiges Zeichen, mit dem Menschen üblicherweise signalisieren, dasssie den anderen zur Kenntnis genommen haben, machte sich Monique an die Arbeit.
    Und jetzt waren ihre beiden Hände mit diesen roten, roten Nägeln an seinem Hals und öffneten den obersten Knopf seines Hemdes und legten ihm ein sauberes grünes Tuch um. Und im Spiegel zuckte sein Blick zwischen seiner eigenen, verwirrten Miene und ihrem ruhig und distanziert wirkenden Gesicht hin und her. Da sie feststellte, dass sein Kopf zu niedrig war, setzte sie unvermittelt den Fuß auf das Pedal des Stuhls und pumpte ihn nach oben, oben, oben, und parallel dazu erschienen viele Dinge, die unten, unten, unten waren – Füße, Haarlocken, gebrauchte Wattebäusche, eine schwarze Katze, die buckelnd herumschlich – vor Arzee im Spiegel.
Bsss, bsss, bsss
– ein Spray zischte über sein Haar. Und dann lief die Zeit langsamer, und alles wurde heiß und hell, und seine sämtlichen Sinne protokollierten Daten und gaben sie an eine zentrale Stelle weiter, wo jedes Bit in einem Tony-Erinnerungsalbum gespeichert wurde, das er später würde abrufen können. Während er so reglos in seinem Stuhl saß, wie die Nymphen im Noor auf ihren Sockeln standen, war sich Arzee seiner auf den Armlehnen ruhenden Fingerspitzen und seiner in den Schuhen zappelnden Zehen sehr bewusst, vor allem aber einer Ameise, die seinen Oberschenkel hinauf in Richtung seiner Weichteile zu krabbeln schien. Und bekam er etwa langsam rote Ohren? Es sah ganz so aus.
    Doch anders als der kleine runde Spiegel zu Hause im Bad oder der große düstere im Noor brachte dieser Spiegel hier – er schien speziell dazu konstruiert zu sein – Arzees Gesicht besonders vorteilhaft zur Geltung. Er war also gar nicht so – sondern so! Während sein Kopf nach oben, unten, links und rechts gedreht wurde, hatte Arzee Gelegenheit, sich aus verschiedenenBlickwinkeln zu betrachten, und er war von dem, was er da sah, durchaus angetan. Doch: Mobin mochte groß sein, aber er, Arzee, sah gut aus. Mobins Gesicht war zu fleischig, seine Augen standen zu weit auseinander, und sein wirres Haar glich einem Mopp. Seine, Arzees, Wangen hingegen waren straff, seine Augenbrauen buschige Bögen, und seine Nase war eine ganz eigene Klasse, weder von seinem Vater noch von seiner Mutter, sondern eine neue Linie. Sein Haar, das er täglich einölte und einmal in der Woche mit Zitronensaft behandelte, wurde allseits als beneidenswert glänzend und füllig betrachtet. Monique inspizierte sein Haar gerade.
    »Es ist zu ölig«, sagte sie. »Sie sollten weniger Öl verwenden.«
    »Oh.«
    Sein Haar wurde getadelt! Arzee fühlte sich sehr klein. Warum ölte er sein Haar so oft ein? Das hatte Mutter ihm beigebracht – und Mutter irrte!
    Monique war von Kopf bis Fuß in Schwarz gekleidet, sie trug eine figurbetonte Bluse und Slacks. Ihre Bluse war am Hals offen, so dass ihr hinreißendes Schlüsselbein und eine Andeutung von Dekolleté zu sehen waren. Was dachte sie wohl bei der Arbeit? Der Ausdruck ihrer Augen war unergründlich – ihre Augen waren wie gesperrte Straßen, nichts gelangte hinein oder hinaus. Arzee sog den berauschenden Duft ihres Parfums ein und behielt ihn, solange er konnte, in der Nase. Er beobachtete, wie ihre Schere und ihr Kamm auf der Tanzfläche seines Kopfes herumwirbelten, mal kamen sie aufeinander zu und begegneten sich, mal wandten sie sich voneinander ab, wichen zurück. So exakt und effizient waren seine Bewegungen bei der Arbeit nie! Er machte immer Lärm und redete viel, obwohl er doch allein war. Seine abgeschnittenenHaare fielen in Schnipseln und Fransen herunter, zum Teil sogar auf Moniques Oberteil. Als sie sich neben ihn stellte, um sich seiner

Weitere Kostenlose Bücher