Der kleine Lord
daß sie
nur noch stehen kann, und doch sitzt sie immer draußen, sogar
wenn es regnet. Sie thut mir so leid und den andern Jungen auch, einmal
hat Billy Williams beinahe einen Dollar gehabt, und da habe ich ihm
gesagt, er solle ihr jeden Tag um fünf Cents Aepfel abkaufen,
bis sein Geld alle sei, das hätte für zwanzig Tage
gereicht, aber schon nach acht Tagen kriegte er Aepfel über.
Aber damals – das traf sich gut – schenkte mir ein
Herr fünfzig Cents, und nun konnte ich an seiner Statt Aepfel
kaufen. Es thut einem doch so leid, wenn jemand so arm ist und von so
altem Geschlecht; das ihrige, sagt sie, ist ihr in die Knochen
gefahren, und wenn Regenwetter ist, thun sie ihr sehr weh.«
Mr. Havisham blickte in einiger Verlegenheit in das
ernsthafte, unschuldige Gesicht seines kleinen Gegenüber.
»Ich fürchte, du hast mich nicht ganz
verstanden,« fuhr er fort. »Wenn ich von altem
Geschlecht spreche, so meine ich damit nicht hohes Alter der Personen,
sondern daß der Name einer solchen Familie lange bekannt ist.
Vielleicht Hunderte von Jahren sind Männer, die diesen Namen
trugen, in der Geschichte ihres Landes genannt und gefeiert
worden.«
»Wie George Washington,« ergänzte
Ceddie. »Von dem habe ich gehört, seit ich auf der
Welt bin, und lange vorher wußte man schon von ihm, und Mr.
Hobbs sagt, er wird gar nie vergessen werden.«
»Der erste Graf Dorincourt,«
erklärte Mr. Havisham mit einer gewissen Feierlichkeit,
»empfing den Titel eines Grafen vor vierhundert
Jahren.«
»Ach, das ist lange her! Himmel, was für
eine lange Zeit. Haben Sie das Herzlieb auch erzählt? Das wird
sie ›'tressieren‹. Wenn sie hereinkommt,
müssen wir ihr das gleich sagen; sie Hort so gern
Kuriositäten. Aber was thut denn ein Graf noch
außerdem, daß er den Titel bekommt?«
»Viele haben England regieren helfen, andre sind
tapfre Krieger gewesen, die in großen Schlachten gefochten
haben.«
»Das möchte ich auch,« rief Cedrik
begeistert. »Mein Papa war ein Soldat und sehr tapfer
– so tapfer wie George Washington. Vielleicht wäre
er auch deshalb ein Graf geworden, wenn er nicht gestorben
wäre. Ich bin so froh, daß Grafen tapfer sind.
Früher, da habe ich mich manchmal gefürchtet, im
Dunkeln, wissen Sie, aber da war ich auch noch sehr klein, und wenn ich
dann an die Soldaten in der Rev'lution und an George Washington gedacht
habe, da habe ich mich geschämt.«
»Ein Graf zu sein, hat hier und da noch andre
Vorzüge,« sagte Mr. Havisham bedächtig und
faßte den kleinen Lord mit einem eigentümlichen
Ausdruck ins Auge. »Es gibt Grafen, die sehr viel Geld
haben.«
Er war gespannt, ob der kleine Mann da vor ihm schon einen
Begriff von der Macht des Geldes habe.
»Viel Geld haben ist sehr nett,« sagte
Ceddie harmlos. »Ich wollte, ich hätte viel
Geld.«
»Wirklich? Und wozu denn?«
»Ach, wenn man Geld hat, kann man eine Menge Dinge
thun. Da ist gleich die Apfelfrau, zum Beispiel; wenn ich reich
wäre, würde ich ihr ein Zelt kaufen über
ihrem Stand und einen kleinen Ofen, und wenn's regnet, würde
ich ihr einen Dollar geben, dann könnte sie zu Hause bleiben.
Und dann – oh, einen Shawl würde ich ihr auch geben,
und dann thäten ihr die Knochen lange nicht mehr so weh. Sie
hat ja nicht Knochen wie wir, ihr thun alle weh, wenn sie sich nur
rührt, das ist sehr schlimm, wissen Sie. Wenn ich aber so
reich wäre, daß ich ihr all das kaufen
könnte, dann, glaube ich, würden ihre Knochen ganz
gesund!«
»Aha!« bemerkte Mr. Havisham. »Und
was würdest du denn sonst noch thun, wenn du reich
wärest?«
»O noch so vieles, vieles! Natürlich
würde ich Herzlieb schöne Sachen kaufen,
Nadelbücher und Fächer und goldne Fingerhüte
und Ringe und Konv'ationslexikon und eine Kutsche, damit sie nicht im
Om'ibus fahren muß. Wenn sie ein rosa Seidenkleid haben
möchte, würd ich ihr auch eins kaufen, aber sie will
immer nur schwarze Kleider haben, aber ich würde sie doch in
alle die großen schönen Läden
führen und sie müßte sich etwas
auswählen. Und dann Dick.«
»Wer ist denn Dick?« fragte Mr. Havisham.
»Dick ist Schuhputzer,« erläuterte
Seine kleine Herrlichkeit, sich mehr und mehr für seine eignen
Plane erwärmend. »Er ist ein so netter Schuhputzer,
Sie können sich gar nicht denken, wie nett! Er steht an einer
Straßenecke drunten, wo's in die Stadt geht, und ich kenne ihn
schon lange, lange. Einmal, als ich
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