Der kleine Mann
allerdings dem Jokus, dem Marzipanmädchen, der Polizei, dem Zirkus und der übrigen Welt voraus: Er wußte zuverlässig, daß er noch immer gesund und am Leben war! Das wußte die übrige Welt nicht. Und Mäxchen machte sich große Sorgen, daß sich der Jokus deshalb große Sorgen mache. Ja, es war schon schlimm. Sehr schlimm.
Die beiden Gauner paßten auf wie die Heftelmacher. Meist zu zweit. Allein ließen sie ihn keine halbe Sekunde. Auch nachts nicht. Einer saß immer neben der Streichholzschachtel und bewachte ihn. Zum Essen verschwanden sie abwechselnd. Und sie aßen, um niemandem aufzufallen, jeden Tag in anderen Restaurants.
Mäxchens kleine Mahlzeiten briet und kochte Otto auf einem Propangaskocher. Er tat es mehr schlecht als recht, obwohl er sich ziemlich viel Mühe gab. „Iß mal tüchtig“, sagte er immer. „Denn wenn du krank wirst oder abkratzt, läßt uns Lopez verkehrt aufhängen.“
„Wer ist denn eigentlich dieser Señor Lopez?“ fragte Mäxchen.
„Das geht dich einen feuchten Dreck an!“ antwortete Otto gereizt und funkelte böse mit seinen rotgeränderten Schlitzaugen.
Mäxchen lächelte und schwieg. Dann sagte er plötzlich: „Mach bitte das Fenster auf. Ich brauche frische Luft.“ Otto stand ächzend auf, öffnete das Fenster und setzte sich wieder.
Nach einer Weile tat Mäxchen, als ob ihn fröre. „Mich friert. Mach bitte das Fenster zu!“
Otto stand ächzend auf, schloß das Fenster und setzte sich wieder.
Fünf Minuten später fragte Mäxchen: „Ist noch etwas von dem Ananastörtchen übrig?“
Otto stand ächzend auf, blickte in den Schrank, setzte sich wieder und knurrte: „Nein. Du hast es auf gef ressen.“
„Geh doch bitte in die Konditorei und hole mir ein neues!“
„Nein!“ brüllte Otto, daß die Wände zitterten. „Nein, du kleine Kanaille!“ Dann besann er sich, daß er für Mäxchens Wohlbefinden verantwortlich war, gab sich einen Ruck und erklärte so sanft, wie er konnte: „Ich hole dir eines, wenn Bernhard vom Mittagessen zurück ist.“
„Besten Dank im voraus“, sagte Mäxchen freundlich und wartete gespannt, daß irgend etwas geschähe. Daß jemand an die Wohnungstür klopfe oder daß es klingle und daß jemand aus dem Hause sich wütend erkundige, warum mittags so abscheulich gebrüllt werde. Denn nur deswegen schikanierte er ja den kahlen Otto bis zum Weißglühen! Der Kerl sollte ja brüllen! Wie am Spieße!
,Merkwürdig’, dachte der Kleine Mann. ,Zu zwei Zimmern gehört schließlich ein ganzes Haus...Und in einem Haus wohnen schließlich Leute...Aber es klopft keiner, und es klingelt niemand...Wo bin ich bloß?’ Er ließ sich’s nicht anmerken, wie ihm zumute war. Aber insgeheim hatte er schreckliche Angst. Könnt ihr das verstehen? Er benahm sich frech wie Oskar. Und dabei zitterte er wie Sülze.
Am meisten fürchtete er sich vor Bernhard, weil der niemals brüllte. Die Stimme klang so kalt, als komme sie geradenwegs aus dem Eisschrank. Wenn er sprach, fror man. Und Mäxchen hütete sich, ihn zu schikanieren. Zum Glück war Bernhard häufig außer Haus. Wenn er zurückkehrte, fragte Otto jedesmal: „Was Neues?“ und Bernhard erwiderte meistens nur: „Nein.“ Oder: „Wenn’s was Neues gibt, werde ich dir’s schon erzählen.“ Oder: „Halte die Klappe!“ Oder: „Los! Geh essen! Hau ab!“
Ein einziges Mal platzte Otto, Bernhard gegenüber, der Kragen. Er brüllte: „Ich hab es satt, in dieser Bruchbude zu hocken und bei einem Zwerg das Kindermädchen zu spielen! Wann fliegen wir endlich?“
Bernhard musterte den andern wie einen alten angeketteten Hofhund. Dann sagte er: „Wir sollen warten, bis die Polente weniger scharf kontrolliert. Das kann noch ein paar Tage dauern.“
„So ein Scheibenkleister!“ schimpfte Otto. „Wenn es nach mir ginge, säßen wir längst nicht mehr hier.“
Bernhard nickte. „Stimmt! Wenn es nach dir ginge, säßen wir längst im Zuchthaus.“
Otto süffelte sein Schnapsglas leer, stand ächzend auf und schob brummend zum Essen ab. Nun ließ sich Bernhard in dem leergewordenen Sessel nieder und las gelangweilt Zeitung.
Nach einer Weile fragte Mäxchen und machte dazu ein unschuldiges Gesicht wie ein Gänseblümchen: „Wo soll denn unsere Reise hingehen?“
„Ich bin manchmal schwerhörig“, antwortete Bernhard, ohne die Zeitung sinken zu lassen.
„Wenn’s weiter nichts ist“, meinte der Junge. „Ich kann auch lauter!“ Und schon schrie er gellend: „Wo soll denn unsere
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