Der kleine Mann
Verkäufer waren zu den Kriminalbeamten äußerst zuvorkommend gewesen. Aber wer die weiße Kellner jacke gekauft und wie er ausgesehen hatte, das wußte niemand mehr.
Rosa Marzipan hatte den Jokus gezwungen, mit ihr in ein Restaurant zu gehen. „Du mußt endlich wieder etwas essen“, hatte sie erklärt. „Du kannst nicht immer im Hotelzimmer sitzen und die Wand anstarren. Das hilft uns auch nicht weiter. Und du selber wirst am Ende krank.“
Nun saßen sie also im ,Goldenen Schinken’, so hieß das Lokal, und der Jokus starrte nicht an die Wand, sondern auf den Teller. Er brachte keinen Bissen hinunter und kein Wort heraus. So ging das nun schon anderthalb Tage, und das Marzipanfräulein machte sich ernste Sorgen. Eine Tasse Fleischbrühe hatte er getrunken. Das war alles.
Um ihn zu trösten, sagte sie: „Morgen, spätestens übermorgen, ist Mäxchen wieder da. Er ist viel zu schlau und zu flink, als daß er sich länger einsperren ließe. Keine zehn Pferde könnten ihn zurückhalten!“
„Es sind leider keine Pferde“, erwiderte der Jokus. „Es sind Verbrecher. Wer weiß, was sie dem kleinen Kerl angetan haben.“ Er seufzte. Dann schüttelte er den Kopf. „Nicht einmal die hohe Belohnung scheint sie zu locken! Dabei hatte ich so gehofft, daß sie mich gerade deswegen anrufen würden.“
„Sie haben Angst vor der Polizei.“
„Ich hätte sie, Mäxchen zuliebe, nicht verraten“, murmelte der Jokus und starrte auf seinen Teller. Auch Rosa Marzipan hatte keinen Appetit. Aber sie ließ sich’s nicht allzu sehr anmerken, sondern aß ein paar Happen, weil sie dachte, er werde, halb aus Versehen, mitessen. Es war vergebliche Liebesmühe.
Während sie mit der Gabel in ihrem Kalbsgulasch herumstocherte, sprang plötzlich an einem der anderen Tische ein Gast auf und gab dem Zeitungsverkäufer, der rundum das neueste Abendblatt anbot, eine saftige Ohrfeige. „Was fällt Ihnen ein?“ brüllte der Herr. „Legen Sie sofort meine Streichholzschachtel wieder hin!“
„Bravo!“ rief jemand am Nebentisch. „Von mir kriegt er auch gleich eine Backpfeife!“
„Bei mir hat er dasselbe versucht!“ schrie ein Dritter. „Herr Ober, holen Sie sofort den Geschäftsführer!“
Es war ein richtiger Aufruhr. Der Zeitungsverkäufer hielt sich die Backe. Die Gäste hielten den Zeitungsverkäufer. Der Oberkellner holte den Geschäftsführer. Der Geschäftsführer winkte einem Pikkolo. Der Pikkolo holte den Polizisten von der nächsten Straßenecke. Der Polizist holte sein Notizbuch aus der Tasche.
„Ich weiß überhaupt nicht, was Sie wollen“, schimpfte der Zeitungsverkäufer. „Dauernd heißt es im Rundfunk, die Bevölkerung soll wachsam sein, weil der Kleine Mann gekidnappt wurde! Und wenn man dann wachsam ist und beispielsweise in fremde Streichholzschachteln guckt, ob der Kleine Mann vielleicht drinsteckt, kriegt man Ohrfeigen. Das gefällt mir aber gar nicht, Herr Wachtmeister!“
Kaum hatten das die Gäste und der Polizist gehört, waren alle miteinander ein Herz und eine Seele. Jeder entschuldigte sich bei jedem. Und auch der Zeitungsmann ärgerte sich nicht länger. Er verkaufte im Handumdrehen sämtliche Abendblätter aus seiner Umhängetasche und ging befriedigt von dannen. Der Wachtmeister durfte, auf Geschäftskosten, am Ausschank ein Bier trinken.
Wo man auch hinschaute, überall wurde das Abendblatt studiert. Es war zwar neu, aber Neues über Mäxchen stand nicht darin. Trotzdem hatte der Gerichtsreporter einen kurzen Artikel über den ungeklärten Kriminalfall verfaßt. Alle Gäste im ,Goldenen Schinken* lasen ihn, und ihr Essen wurde kalt. Auch Rosa Marzipan und der Jokus blickten, dicht aneinandergelehnt, in die Zeitung. Dort stand, auf der ersten Seite rechts oben:
Ja, es war schlimm. Sehr schlimm. Niemand kannte die Straße, das Haus und das Zimmer, wo Mäxchen gefangengehalten wurde. Und wieviele Straßen, Häuser und Zimmer gibt es in einer Großstadt mit mehr als einer Million Einwohnern!
Nicht einmal Mäxchen selber wußte, wo er war. Er kannte nur das Zimmer, wo Bernhard und der kahle versoffene Otto ihn bewachten. Und das war eines jener billig möblierten Zimmer, die einander so ähnlich sind wie Konfektionsanzüge. Doch auch wenn es ein Salon mit venetianischen Spiegeln und mit einem Selbstporträt von Goya an der Wand gewesen wäre, was hätte es dem kleinen Gefangenen genützt? Die Hausnummer und den Straßennamen hätte er dadurch auch nicht erfahren.
Etwas hatte er
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