Der kleine Vampir (01)
und verschwand freiwillig!
«Ich geh hier so!», äffte Udo ihn nach und verzog das Gesicht zu einem abfälligen Grinsen. «Was Dümmeres ist dir wohl nicht eingefallen, was?»
«Doch», sagte Anton, «ich will meinen Freund besuchen.»
«Kenn ich den?», fragte Udo lauernd.
«Ich glaub nicht», sagte Anton und grinste, «oder kennst du Vampire?»
Einen Augenblick lang war Udo zu überrascht, um zu antworten, aber dann sagte er verächtlich: «Vampire! Du spinnst ja! Ich glaub, ich bin im Kino!» Er schüttelte den Kopf und musterte Anton mitleidig wie einen Kranken. «Zieh bloß Leine», sagte er dann, und auf einmal klang seine Stimme wütend und gereizt, «und lass dich hier nicht wieder blicken!»
«Ja ja», sagte Anton, «nur keine Panik.» Die Tüte schwenkend und «Hänschen klein» pfeifend, ging er langsam weiter. Udo sollte bloß nicht denken, dass er Angst vor ihm hatte – auch wenn er zwei Klassen über ihm war! Ohne sich umzudrehen, ging er bis zur Friedhofsmauer. Sie war tatsächlich weiß gestrichen und so hoch, dass Anton nur die Spitzen der dahinter wachsenden Tannen sah. Kurz bevor er die Eingangspforte erreicht hatte, blieb er stehen und sah sich verstohlen um. Aber Udo war verschwunden. Anton wartete noch ein paar Minuten, doch als sich auch dann nichts zeigte, öffnete er die Pforte und trat ein.
Friedhofsstille umfing ihn, und es roch nach Erde und Blumen.Gar nicht so übel, fand Anton, jedenfalls nicht die Spur unheimlich! Beruhigt setzte er seinen Weg fort. Wären nicht die vielen Kreuze und Grabsteine mit ihren seltsamen Inschriften wie «Ruhe sanft» gewesen, so hätte er denken können, er ginge durch einen Park. Komisch war nur, dass ihm niemand begegnete! Aber vielleicht war Sonntagmittag nicht die richtige Zeit für einen Friedhofsbesuch? Na ja, ihm sollte es recht sein. Umso ungestörter konnte er sich bewegen.
Er ging den Hauptweg hinunter. Früher hatte er manchmal seine Mutter begleitet, wenn sie die Familiengräber herrichtete. So konnte er sich noch gut erinnern, dass der wildere Teil des Friedhofs hinter der Kapelle begann, die am Ende des Weges lag. Diese Kapelle hatte ihm schon immer einen heimlichen Schauder eingeflößt: Sie war wie ein normales Haus gebaut, aber sie hatte keine Fenster, nur eine riesige Eisentür. Und obwohl die Kapelle alt und verwittert aussah, befand sich an der Tür ein offensichtlich ganz neues und häufig benutztes Vorhängeschloss, und das war eigentlich das Unheimlichste, denn nie hatte Anton jemanden hineingehen oder herauskommen sehen!
Auch jetzt ging er mit einem unbehaglichen Gefühl an der Kapelle vorbei. Nichts hatte sich verändert, sogar das Schloss blinkte genauso in der Sonne wie früher. Ob die Kapelle leer war? Und wenn nicht … was mochte in ihr aufbewahrt werden? Bestimmt nichts Gutes, dachte Anton, und ihm fiel die Geschichte von der Nacht im Leichenhaus ein, die er einmal gelesen hatte: Um eine Wette zu gewinnen, hatte sich ein Mann in einem Leichenhaus über Nacht einschließen lassen. Zuerst hatte er gedacht, er sei allein, aber dann, als das Mondlicht durch das Fenster fiel, bewegte sich plötzlich der Sargdeckel neben ihm, und heraus kam … Obwohl die Sonne schien, lief es Anton kalt über den Rücken, als er an das Wesen dachte, das dort aus dem Sarg gestiegen war!
Plötzlich hatte er es eilig, den Umhang abzuliefern und den Friedhof hinter sich zu lassen. Wer wusste denn, was sich hier so alles herumtrieb? In Antons Büchern gab es ja nicht nur Vampire – die waren fast noch am harmlosesten … sondern auch Scheintote zum Beispiel. Er hatte mal von einer Frau gelesen, die tagelang immer wieder verzweifelt gegen den Sargdeckel geklopft hatte, bis sie vor Entkräftung gestorben war.
Anton beschleunigte seine Schritte. Falls jemand klopfen sollte – er, Anton, würde bestimmt nicht hingehen! Am besten, er lief so schnell, dass er das Klopfen gar nicht erst hörte! Auch Tante Dorothee fiel ihm wieder ein, gestern Nacht in der Gruft!
Anton hatte jetzt den Teil des Friedhofs verlassen, auf dem die Wege geharkt und die Hecken säuberlich beschnitten waren. Hier hinter der Kapelle wuchs das Gras fast kniehoch, und er musste sich seinen Weg durch Unkraut und Gestrüpp bahnen. Aber in der Ferne sah er die Friedhofsmauer. Dort irgendwo musste die Tanne sein – und damit der Einstieg zur Gruft! Während er weiterging, schien es ihm plötzlich, als hörte er Schritte auf dem Kiesweg hinter sich. Ein eisiger Schreck
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