Der kleine Vampir (01)
durchfuhr ihn. Wer oder was mochte ihm folgen? Jemand, der aus der Kapelle kam?
Doch im nächsten Augenblick war alles wieder ruhig, und jetzt wagte er, sich umzudrehen – der Friedhof lag ebenso leer und still da wie vorher. Ob er sich nur eingebildet hatte, Schritte zu hören? Schließlich war es verdammt einsam hier, und da konnte man sich die komischsten Sachen einreden!
Fast wäre er über einen Grabstein gestolpert, der im Gras lag. Es war ein merkwürdiger Stein: Er hatte die Form eines Herzens! Und in verschnörkelter, kaum noch lesbarer Schrift stand dort:
Ludwig von Schlotterstein, 1803 – 1850
. Anton erschrak, denn wenn die Daten stimmten, war Rüdigers Vaterschon über hundert Jahre tot! Ein paar Schritte weiter entdeckte er einen zweiten, ebenfalls wie ein Herz geformten Stein, auf dem
Hildegard von Schlotterstein, 1804 – 1849
stand. Daneben fand er die Grabsteine der Großeltern.
Sabine von Schlotterstein, 1781 – 1847
und
Wilhelm von Schlotterstein, 1780 – 1848
. Ein Stück weiter lag der Grabstein der Tante:
Dorothee von Schlotterstein-Seifenschwein, 1807 – 1851
und neben ihr der Grabstein des Onkels:
Theodor von Seifenschwein, 1790 – 1852
. Und alle Grabsteine hatten dieselbe Herzform! Eigentlich viel zu auffällig, fand Anton, denn da musste doch jeder stutzig werden. Und was konnte ein Herz schon bedeuten! Erstens Liebe – Anton kicherte – und zweitens Blut!!! Wer wüsste nicht, dass das Herz das Blut durch den Körper pumpt!
Als Anton die Jahreszahlen verglich, fiel ihm auf, dass die Vampire in einer ganz bestimmten Reihenfolge, und zwar immer im Abstand von einem Jahr, gestorben waren: zuerst Sabine, dann Wilhelm, Hildegard, Ludwig, Dorothee und Theodor. Hieß das, dass immer einer den anderen …? Und die Kinder? Wer hatte die …? Und wo waren überhaupt ihre Grabsteine?
Aber so sehr Anton auch suchte, er fand nur noch einfache graue Steine, die bestimmt über keinem Vampirgrab gelegen hatten. Vielleicht hatten der kleine Vampir und seine Geschwister gar keine Grabsteine bekommen? Vermutlich waren sie als letzte von Schlottersteins gestorben und hatten niemanden mehr gehabt, der ihnen eine anständige Vampirbeerdigung zukommen ließ? Während er noch überlegte, hörte er plötzlich ein Knacken im Gebüsch neben sich, und als er sich umdrehte, sah er in Udos grinsendes Gesicht.
«Du?», war das Einzige, was ihm einfiel.
«Da staunst du wohl!» Mit einem selbstgefälligen Lächeln kam Udo aus dem Gebüsch hervor. «Aber was starrst du so? Bin ich ein Gespenst?»
«Äh – ich», murmelte Anton, «ich dachte, es wär …»
«Ein Geist, was?», rief Udo und lachte dröhnend.
«Nein, ich dachte, es wär mein Freund», erklärte Anton. «Wir wollten uns jedenfalls hier treffen, aber bis jetzt ist er noch nicht gekommen.» Ob Udo ihm das glauben würde? Eine bessere Ausrede war ihm in der Eile nicht eingefallen!
«Soso», sagte Udo und machte ein ungläubiges Gesicht, «das soll ich dir abnehmen!» Und plötzlich schrie er: «Du denkst wohl, ich bin blöd, was?» Er fasste Anton am Kinn und drückte es langsam nach oben.
«Au», protestierte Anton, aber Udo drückte nur noch kräftiger. «Siehst du», lachte er böse, «das ist die Strafe. So, und nun pack aus: Was willst du hier?»
«Erst musst du mich loslassen», verlangte Anton.
«Na gut», sagte Udo und trat einen Schritt zurück. Lauernd sah er Anton an: «Und?»
«Ich – ich hab nicht gelogen», sagte Anton, «ich bin wirklich hier verabredet mit meinem Freund.»
«Und wie heißt dein Freund?»
«Rüdiger. Rüdiger von Schlotterstein.»
Wieder erschien derselbe lauernde Ausdruck auf Udos Gesicht. «Und was wolltet ihr auf dem Friedhof?»
Anton überlegte fieberhaft. Von der Gruft durfte er auf keinen Fall erzählen. Udo würde alles verraten, und dann waren die Vampire für immer verloren!
«Wir – wir wollten Vampirgräber suchen», sagte er schließlich.
«Vampirgräber!», sagte Udo und gähnte. «So ’n Käse!»
«Nein, nein», sagte Anton eifrig, «in Rüdigers Familie soll es früher Vampire gegeben haben!»
«Haha», sagte Udo laut und kein bisschen lustig.
«Man soll ihre Gräber an einer bestimmten Sache erkennen können!», erklärte Anton.
Das schien Udo zu interessieren. «An einer bestimmten Sache?», fragte er.
«Ja! An den Grabsteinen!»
«Wieso an den Grabsteinen?»
«Weil –», und hier senkte Anton die Stimme und sah sich
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