Der Klient
Ricky, streichelnd und tätschelnd und leise auf ihn einredend, und dem Versuch, stark zu sein in dieser feuchten, dunklen kleinen Zelle.
Reggie war vor zwei Stunden erschienen, und sie hatten auf der Kante des Klappbettes gesessen und sich eine halbe Stunde unterhalten. Sie hatte von der Anhörung berichtet, ihr versichert, daß Mark zu essen bekam und in keiner körperlichen Gefahr war; sie hatte seine Zelle in der Jugendhaftanstalt beschrieben und ihr gesagt, daß er dort sicherer aufgehoben war als hier; und dann hatte sie über Richter Roosevelt und das FBI und sein Zeugenschutzprogramm gesprochen. Anfangs und unter den gegebenen Umständen war der Gedanke reizvoll gewesen – sie würden einfach in eine neue Stadt ziehen, mit neuen Namen und einem neuen Job und einer anständigen Unterkunft. Sie konnten vor dieser unerfreulichen Situation davonlaufen und noch einmal von vorn anfangen. Sie konnten sich für eine große Stadt entscheiden mit großen Schulen, und die Jungen würden sich in der Menge verlieren. Aber je länger sie zusammengerollt dalag und über Rickys kleinen Kopf hinweg die Wand anstarrte, desto weniger gefiel ihr der Gedanke. In Wirklichkeit war es ein gräßlicher Gedanke – ständig auf der Flucht leben, immer voller Angst vor einem unvermuteten Klopfen an der Tür, immer in Panik, wenn einer der Jungen nicht rechtzeitig nach Hause kam, immer bereit, über ihre Vergangenheit zu lügen.
Dieser kleine Plan war endgültig. Was war, begann sie sich selbst zu fragen, wenn eines Tages, vielleicht in fünf oder zehn Jahren, lange nach der Verhandlung in New Orleans, irgendeine Person, die sie nie kennengelernt hatte, eine dumme Bemerkung machte und sie den falschen Leuten zu Ohren kam? Und wenn Mark, sagen wir, im letzten Jahr der High School ist, und jemand wartet auf ihn nach einem Ballspiel und hält ihm eine Pistole an den Kopf? Sein Name wäre nicht mehr Mark, aber tot wäre er trotzdem.
Sie war fast entschlossen, das Zeugenschutzprogramm abzulehnen, als Mark sie aus dem Gefängnis anrief. Er sagte, er hätte gerade eine große Pizza vertilgt, fühlte sich wirklich großartig, netter Ort und so weiter, es gefiele ihm hier besser als im Krankenhaus, das Essen wäre besser, und er redete so munter drauflos, daß sie wußte, daß er log. Er sagte, er plante bereits seine Flucht und würde bald wieder draußen sein. Sie sprachen über Ricky und den Wohnwagen und die Anhörung heute und die Anhörung morgen. Er sagte, er hielte sich an Reggies Ratschläge, und Dianne stimmte zu, das wäre vernünftig. Er entschuldigte sich, daß er nicht da sein konnte, um ihr mit Ricky zu helfen, und sie mußte gegen Tränen ankämpfen, als er versuchte, sich so erwachsen zu geben. Er entschuldigte sich abermals für all das Durcheinander.
Ihr Gespräch war kurz gewesen. Es fiel ihr schwer, mit ihm zu reden. Sie hatte kaum mütterlichen Rat zu bieten und empfand sich als Versager, weil ihr elfjähriger Sohn im Gefängnis saß und sie ihn nicht herausholen konnte. Sie konnte ihn nicht besuchen. Sie konnte nicht mit dem Richter sprechen. Sie konnte ihm nicht raten, zu reden oder den Mund zu halten, weil auch sie Angst hatte. Sie konnte nicht das geringste tun, außer hier auf diesem schmalen Bett zu liegen, die Wände anzustarren und zu beten, daß, wenn sie aufwachte, der Alptraum vorüber war.
Es war sechs Uhr, Zeit für die Lokalnachrichten. Sie betrachtete das flüsternde Gesicht der Moderatorin und hoffte, daß es nicht passieren würde. Aber es dauerte nicht lange. Nachdem zwei Tote aus einer Mülldeponie herausgetragen worden waren, erschien plötzlich ein schwarzweißes Standfoto von Mark und dem Polizisten, den sie geschlagen hatte, auf dem Bildschirm. Sie stellte den Ton etwas lauter ein.
Die Moderatorin lieferte die grundlegenden Fakten über die Festnahme von Mark Sway, sehr darauf bedacht, sie nicht als Verhaftung zu bezeichnen. Dann erschien ein Reporter, der vor dem Jugendgericht stand. Er redete ein paar Sekunden über eine Anhörung, von der er nichts wußte, verkündete atemlos, daß der Junge, Mark Sway, in die Jugendhaftanstalt zurückgebracht worden war und daß morgen in Richter Roosevelts Gerichtssaal eine weitere Anhörung stattfinden würde. Zurück ins Studio, und die Moderatorin brachte die Zuschauer, was Mark und den tragischen Selbstmord von Jerome Clifford betraf, auf den neuesten Stand der Dinge. Sie zeigten einen kurzen Clip der Trauergäste beim Verlassen der Kapelle in New
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