Der Klient
Stunden in der Lampenfabrik. Seine Ohren dröhnten noch immer von den Schüssen, aber er fing wieder an zu denken. Er setzte sich neben Rickys Füße und fuhr mit dem Eiswürfel langsam um sein Auge herum.
Wenn er nicht 911 anrief, konnten Tage vergehen, bis jemand die Leiche fand. Der tödliche Schuß war stark gedämpft gewesen, und Mark war sicher, daß niemand außer ihnen ihn gehört hatte. Er war schon oft auf der Lichtung gewesen, aber plötzlich wurde ihm bewußt, daß er dort noch nie einen anderen Menschen gesehen hatte. Die Stelle war völlig abgelegen. Weshalb hatte Romey sich für sie entschieden? Schließlich war er aus New Orleans gekommen, richtig?
Mark sah sich im Fernsehen alle möglichen Reality Shows an und wußte, daß jeder 911-Anruf aufgezeichnet wurde. Er wollte nicht aufgezeichnet werden. Er würde nie jemandem erzählen, nicht einmal seiner Mutter, was er gerade erlebt hatte, und was er in diesem kritischen Moment am dringendsten brauchte, war eine Unterhaltung mit seinem kleinen Bruder, damit sie ihre Lügen aufeinander abstimmen konnten. »Ricky«, sagte er und rüttelte seinen Bruder am Bein. Ricky stöhnte, öffnete aber nicht die Augen. Statt dessen krümmte er sich noch stärker zusammen. »Ricky, wach auf!«
Es erfolgte keine Reaktion, nur ein plötzliches Schaudern, als fröre er. Mark fand eine Steppdecke im Schrank und breitete sie über seinen Bruder, dann wickelte er eine Handvoll Eiswürfel in ein Geschirrtuch und drückte die Packung behutsam auf sein linkes Auge. Ihm war nicht danach zumute, Fragen über sein Auge zu beantworten.
Er starrte auf das Telefon und dachte an Westernfilme mit herumliegenden Leichen und darüber kreisenden Bussarden, in denen alle darauf bedacht waren, die Toten zu begraben, bevor die verdammten Vögel über sie herfielen. In ungefähr einer Stunde würde es dunkel sein. Schlagen Bussarde auch nachts zu? In einem Film hatte er das nie gesehen.
Der Gedanke an den dicklichen Anwalt, der da draußen lag, mit der Pistole im Mund und nur einem Schuh und vermutlich immer noch blutend, war schon gräßlich genug, aber dazu noch die Bussarde, die ihm das Fleisch von den Knochen rissen, und Mark griff zum Hörer. Er tippte 911 und räusperte sich.
»Ja, da liegt ein toter Mann im Wald, und jemand muß hin und ihn holen.« Er sprach mit so tiefer Stimme wie möglich und wußte von der ersten Silbe an, daß es ein erbärmlicher Verstellungsversuch war. Er atmete schwer, und die Beule auf seiner Stirn pochte.
»Wer spricht da, bitte?« Es war eine Frauenstimme, fast wie ein Roboter.
»Äh, das möchte ich nicht sagen, okay?«
»Wir brauchen deinen Namen, Junge.« Großartig, sie wußte, daß er ein Kind war. Er hoffte, daß er sich wenigstens anhörte wie ein Teenager.
»Wollen Sie etwas über den Toten erfahren oder nicht?« fragte Mark.
»Wo befindet sich der Tote?«
Das ist einfach grandios, dachte er, schon jetzt erzählte er jemandem davon. Und nicht jemandem, dem man vertrauen konnte, sondern jemandem, der eine Uniform trug und bei der Polizei arbeitete. Er konnte regelrecht hören, wie die Aufzeichnung dieses Gesprächs immer wieder vor der Jury abgespielt wurde, genau wie im Fernsehen. Sie würden all diese Stimmtests machen, und jedermann würde wissen, daß es Mark Sway gewesen war, der am Telefon etwas über einen Toten gesagt hatte, von dem sonst niemand in der Welt etwas wußte. Er versuchte, seine Stimme noch tiefer klingen zu lassen.
»In der Nähe der Tucker Wheel Estates, und …«
»Das ist an der Whipple Road …«
»Ja, das stimmt. Er liegt im Wald zwischen den Tucker Wheel Estates und dem Highway 17.«
»Der Tote liegt im Wald?«
»Sozusagen. Genaugenommen liegt er auf einem Wagen im Wald.«
»Und der Mann ist tot?«
»Der Mann hat sich erschossen. Mit einer Pistole, in den Mund, und ich bin sicher, daß er tot ist.«
»Hast du die Leiche gesehen?« Die Stimme der Frau verlor ihre professionelle Zurückhaltung. Jetzt lag eine gewisse Schärfe darin.
Was für eine blöde Frage, dachte Mark. Ob ich sie gesehen habe? Sie versuchte, Zeit zu gewinnen, ihn am Telefon festzuhalten, damit sie dem Anruf nachgehen konnten.
»Hast du die Leiche gesehen, Junge?« fragte sie noch einmal.
»Natürlich habe ich sie gesehen.«
»Ich brauche deinen Namen, Junge.«
»Hören Sie, da ist ein kleiner Feldweg, der vom Highway 17 abzweigt und zu einer Lichtung im Wald führt. Der Wagen ist groß und schwarz, und der Mann liegt darauf. Ihr
Weitere Kostenlose Bücher