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Der Klient

Titel: Der Klient Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Grisham
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auf mich.« Aber es half nichts. Er warf noch einen letzten Blick auf den Mann auf dem Wagen, dem immer noch die Waffe im Mund steckte. Die Augen standen halb offen, und seine Füße zuckten.
    Mark hatte genug gesehen. »Ricky«, rief er wieder, während er auf den Pfad zutrabte. Sein Bruder war vor ihm, rannte langsam auf eine ganz seltsame Weise, mit beiden Armen steif an den Beinen und aus der Hüfte heraus vorgebeugt. Das Unterholz schlug ihm ins Gesicht. Er stolperte, fiel aber nicht. Mark packte ihn bei den Schultern und drehte ihn herum. »Ricky, hör mir zu! Es ist alles okay.« Ricky glich einem Zombie mit bleicher Haut und glasigen Augen. Er atmete schwer und hastig und gab ein dumpfes, schmerzliches Stöhnen von sich. Reden konnte er nicht. Er riß sich los und nahm seinen Trab wieder auf, immer noch stöhnend. Mark war dicht hinter ihm, als sie ein trockenes Bachbett durchquerten und ihrer Behausung zustrebten.
    Die Bäume lichteten sich unmittelbar vor dem zerfallenden Bretterzaun, der den größten Teil der Wohnwagensiedlung umgab. Zwei kleine Kinder warfen mit Steinen nach einer Reihe von Dosen, die sie auf der Haube eines Schrottwagens aufgestellt hatten. Ricky rannte schneller und kroch durch eine Lücke im Zaun. Er übersprang einen Graben, schoß zwischen zwei Wohnwagen hindurch und rannte auf die Straße. Mark war zwei Schritte hinter ihm. Ricky fiel das Atmen immer schwerer, und das Stöhnen wurde lauter.
    Der Wohnwagen der Sways war drei Meter sechzig breit und vierzehn Meter lang und stand zusammen mit vierzig anderen auf einem schmalen Streifen an der East Street. Zu den Tucker Wheel Estates gehörten auch die North, South und West Street, und alle vier Straßen verliefen kurvenförmig und kreuzten sich mehrmals in allen Richtungen. Es war eine respektable Wohnwagensiedlung mit halbwegs sauberen Straßen, ein paar Bäumen, einer Menge Fahrrädern und ein paar aufgegebenen Autos. Buckelschwellen verlangsamten den Verkehr. Laute Musik oder Lärm zogen einen Polizeibesuch nach sich, sobald Mr. Tucker informiert worden war. Seiner Familie gehörten das gesamte Land und der größte Teil der Wohnwagen einschließlich Nummer 17 an der East Street, den Dianne Sway für zweihundertachtzig Dollar im Monat gemietet hatte.
    Ricky rannte durch die unverschlossene Tür und fiel auf die Couch im Wohnzimmer. Er schien zu weinen, aber es kamen keine Tränen. Er zog die Knie bis zum Bauch hoch, als wäre ihm kalt, dann steckte er ganz langsam den rechten Daumen in den Mund. Mark ließ sich keine seiner Bewegungen entgehen. »Ricky, rede mit mir«, sagte er und schüttelte sanft seine Schultern. »Du mußt mit mir reden, Mann, okay, Ricky? Es ist alles okay.«
    Ricky lutschte heftiger am Daumen. Er schloß die Augen, und sein Körper bebte.
    Mark schaute sich im Wohnzimmer und in der Küche um und begriff, daß alles noch genau so war wie vor einer Stunde. Vor einer Stunde! Es kam ihm vor wie Tage. Die Sonne wurde schwächer, und die Zimmer waren ein wenig dunkler. Ihre Bücher und Schultaschen lagen wie immer auf dem Küchentisch. Die tägliche Notiz von Mom lag auf dem Bord neben dem Telefon. Er ging zum Ausguß und ließ Wasser in eine saubere Kaffeetasse laufen. Er hatte fürchterlichen Durst. Er trank das kalte Wasser und starrte durch das Fenster auf den Wohnwagen nebenan. Dann hörte er schmatzende Geräusche und sah seinen Bruder an. Der Daumen. Im Fernsehen hatte es eine Sendung gegeben, in der ein paar Kinder in Kalifornien nach einem Erdbeben an ihren Daumen gelutscht hatten. Alle möglichen Ärzte waren zu Rate gezogen worden. Ein Jahr nach dem Beben lutschten die armen Kinder immer noch.
    Die Tasse berührte eine empfindliche Stelle an seiner Lippe, und er erinnerte sich an das Blut. Er lief ins Badezimmer und betrachtete sein Gesicht im Spiegel. Unmittelbar unter dem Haaransatz war eine kleine, kaum sichtbare Beule. Sein linkes Auge war zugeschwollen und sah fürchterlich aus. Er ließ Wasser ins Becken laufen und wusch sich ein bißchen Blut von der Unterlippe. Sie war nicht geschwollen, fing aber plötzlich an zu pochen. Er hatte schon schlimmer ausgesehen nach Prügeleien in der Schule. Er war zäh.
    Er holte einen Eiswürfel aus dem Kühlschrank und drückte ihn fest gegen die untere Augenpartie. Dann ging er zur Couch und betrachtete seinen Bruder und mit besonderer Aufmerksamkeit den Daumen. Ricky schlief. Es war fast halb sechs, Zeit für ihre Mutter, nach Hause zu kommen, nach neun langen

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