Der Klient
Rücksitz geschlafen und anschließend noch fünf Stunden in dem Motelzimmer. Sie dagegen war die ganze Nacht gefahren und hatte kaum zwei Stunden geschlafen. Sie war übermüdet und nervös und fing an, ihn anzufahren.
Sie durchquerten in gemächlichem Tempo die baumgesäumten Straßen. Das Wetter war warm und klar. Bei jedem Haus mähten Leute den Rasen, jäteten Unkraut oder strichen Fensterläden. Von den stattlichen Eichen hing Louisianamoos herunter. Reggie war zum ersten Mal in New Orleans, und sie wünschte sich, die Umstände wären besser.
»Haben Sie die Nase voll von mir, Reggie?« fragte er, ohne sie anzusehen.
»Natürlich nicht. Hast du die Nase voll von mir?«
»Nein, Reggie. Im Augenblick sind Sie mein einziger Freund auf der ganzen Welt. Ich hoffe nur, ich gehe Ihnen nicht auf die Nerven.«
»Das tust du nicht.«
Reggie hatte zwei Stunden lang den Stadtplan studiert. Sie machte eine große Schleife, und schon befanden sie sich wieder in Cliffords Straße. Sie fuhren an dem Haus vorbei, ohne das Tempo zu verringern, und betrachteten beide die Doppelgarage mit dem steilen Giebel über den Schwingtüren. Sie mußte dringend neu gestrichen werden. Die betonierte Zufahrt endete sechs Meter vor den Türen und bog dann zur Rückfront des Hauses ab. An einer Seite der Garage wuchs eine ungeschnittene, fast zwei Meter hohe Hecke; sie versperrte die Sicht auf das Nebenhaus, das mindestens dreißig Meter entfernt war. Hinter der Garage wurde die kleine Rasenfläche von einem Maschendrahtzaun begrenzt, und hinter dem Zaun lag eine dicht bewaldete Fläche.
Sie sprachen nicht miteinander während dieser zweiten Besichtigung von Romeys Haus. Der schwarze Accord rollte ziellos durch das Viertel und hielt dann in der Nähe eines Tennisplatzes in einer unbebauten, West Park genannten Gegend an. Reggie entfaltete den Stadtplan und drehte und wendete ihn, bis er fast den ganzen Vordersitz bedeckte. Mark beobachtete zwei Hausfrauen, die ein wirklich grauenhaftes Tennismatch austrugen. Aber sie sahen gut aus mit ihren rosa und grünen Socken und dazu passenden Sonnenblenden. Auf einem schmalen Asphaltweg erschien ein Radfahrer, dann verschwand er zwischen den Bäumen.
Wieder einmal versuchte Reggie, den Stadtplan richtig zusammenzufalten. »Wir sind angekommen«, sagte sie.
»Wollen Sie einen Rückzieher machen?« fragte er.
»Ich täte es gern. Wie steht’s mit dir?«
»Ich weiß nicht. Wir sind nun schon so weit gekommen. Es käme mir irgendwie albern vor, jetzt davonzulaufen. Die Garage macht einen harmlosen Eindruck.«
Sie war immer noch dabei, den Stadtplan zu falten. »Wir können es ja versuchen, und wenn wir es irgendwie mit der Angst zu tun bekommen, laufen wir einfach hierher zurück.«
»Wo sind wir jetzt?«
Sie öffnete die Tür. »Machen wir einen Spaziergang.«
Der Radweg verlief neben einem Fußballfeld und führte dann durch einen dicht bewaldeten Abschnitt des Parks. Die Äste der Bäume stießen über dem Weg zusammen und tauchten ihn in eine tunnelähnliche Düsternis. Nur stellenweise drang der helle Sonnenschein durch. Hin und wieder zwang sie ein Radfahrer, für einige Sekunden von dem Asphalt herunterzugehen.
Der Spaziergang war erfrischend. Nach drei Tagen im Krankenhaus, zwei Tagen im Gefängnis, sieben Stunden im Auto und sechs Stunden im Motel konnte Mark sich auf diesem Streifzug durch den Wald kaum zurückhalten. Er vermißte sein Fahrrad, und er stellte sich vor, wie schön es wäre, mit Ricky zusammen auf diesem Weg ohne irgendwelche Sorgen durch den Wald zu radeln. Er vermißte die belebten Straßen in der Wohnwagensiedlung, wo überall Kinder herumrannten und ständig ganz spontan alle möglichen Spiele in Gang kamen. Er vermißte seine eigenen kleinen Pfade in den Wäldern rund um die Tucker Wheel Estates und die langen, einsamen Spaziergänge, die er immer genossen hatte. Und, so seltsam es auch erscheinen mochte, er vermißte seine Verstecke unter seinen ureigenen Bäumen und neben Bächen, die ihm gehörten, wo er sich niederlassen und nachdenken und, ja, eine oder zwei Zigaretten rauchen konnte. Seit Montag hatte er keine mehr angerührt.
»Was tue ich hier?« fragte er kaum hörbar.
»Es war deine Idee«, sagte sie. Ihre Hände steckten tief in den Taschen ihrer Jeans, gleichfalls aus dem Wal-Mart.
»Das war die ganze Woche über meine Lieblingsfrage. ›Was tue ich hier?‹ Ich habe sie mir überall gestellt, im Krankenhaus, im Gefängnis, im Gerichtssaal.
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