Der Knochenbrecher
Morgen, nach einer Tasse starkem, schwarzem Kaffee, fuhr er zurück nach Culver City zu Kelly Jensens Atelier. Das blinkende rote Licht, das er in der Nacht zuvor von ihrem Fenster aus gesehen hatte, stammte von einer drahtlosen Ãberwachungskamera, die in einer Nische in der Mauer verborgen war. Die Kamera war auf den kleinen Parkplatz ausgerichtet. In Kellys Atelier gab es keinen Computer, sie konnte die Kamera also nicht installiert haben.
Um sechs Uhr früh war erst einer der Läden, die den Parkplatz mit Kellys Atelier teilten, geöffnet â Mr Wangs Spätverkauf. Doch Hunter hatte Glück: Die Kamera gehörte dem chinesischen Besitzer des Ladens.
Mr Wang war alt und hatte etwas von einem Vogel an sich. Sein zerknittertes Gesicht und seine wachsamen Augen lieÃen nur erahnen, wie viel er in seinem Leben schon gesehen und welche Schätze an Wissen er in langen Jahren angesammelt hatte.
Er erklärte Hunter, dass er seinen Sohn Fang Li gebeten habe, die Kamera am Parkplatz zu installieren, nachdem wiederholt in ihren Ford Pick-up eingebrochen worden sei.
Hunter wollte wissen, wie lange er die Aufzeichnungen speichere.
»Ein Jahr«, antwortete Mr Wang. Er hatte ein breites Lächeln im Gesicht, das niemals zu schwinden schien.
Hunter war überrascht, aber hocherfreut. »Sie haben noch die Aufzeichnungen von vor einem Jahr?«
»Aber ja. Jede Minute.« Wangs Stimme war leise wie ein Flüstern, aber er sprach unglaublich schnell, als befürchte er, nicht genug Zeit zu haben für das, was er sagen wollte. Seine englische Aussprache war akzentfrei, was darauf schlieÃen lieÃ, dass er schon lange in Amerika lebte, aber er sprach in kurzen, abgehackten Sätzen. »Fang Li sehr schlau. Gut mit Computer. Er macht Programm für Speichern von Dateien. Zwölf Monate â dann Dateien löschen automatisch. Muss nichts machen.«
Hunter nickte. »Nicht schlecht. Kann ich sie mir mal ansehen?«
Daraufhin wurden Mr Wangs Augen so schmal, dass es fast so aussah, als hätte er sie geschlossen. »Sie wollen Computer von meinem Laden sehen?«
Ein kurzes Nicken. »Ja. Ich würde mir gerne die Aufnahmen von vor einer Woche anschauen.«
Mr Wang verbeugte sich, und sein Lächeln wurde noch breiter. »Okay, ist kein Problem, aber ich nicht gut. Müssen Sie sprechen mit Fang Li. Ist nicht hier, ich rufe an.« Mr Wang griff nach dem Telefon hinter dem Kassentresen, wählte eine Nummer und sprach auf Mandarin in den Hörer. Das Telefonat dauerte nur wenige Sekunden. »Fang Li kommt«, verkündete er, als er den Hörer aufgelegt hatte. »Ist sehr schnell hier. Wohnt nicht weit.« Er sah auf seine Uhr. »Noch nicht zur Arbeit gegangen. Zu früh.«
Hunter erkundigte sich bei Mr Wang nach Kelly Jensen. Der alte Mann sagte, dass sie fast jeden Tag im Laden vorbeischaue, wenn sie gerade in ihrem Atelier sei, aber manchmal sei sie auch mehrere Wochen lang gar nicht aufgetaucht. Er schien Kelly sehr gern zu haben. Er sagte, sie sei höflich, immer fröhlich und sehr hübsch.
»In meinem Land ganzes Dorf sie fragen zu heiraten.«
Hunter schmunzelte und sah sich im Laden um, während er wartete. Er kaufte sich eine Tasse Mikrowellenkaffee und ein Päckchen Beef Jerky mit Teriyaki-Geschmack. Wenig später traf Fang Li ein. Er war Ende zwanzig und hatte längere schwarze Haare, die wie in einem Shampoowerbespot glänzten. Sein apartes Gesicht war ein Hinweis darauf, wie attraktiv sein Vater früher einmal gewesen sein musste, auch wenn sein Sohn um einiges gröÃer und kräftiger war. Er wechselte kurz ein paar Worte mit seinem Vater, bevor er Hunter die Hand zum Gruà hinstreckte.
»Ich bin Fang Li, aber alle nennen mich Li.«
Hunter stellte sich ebenfalls vor und erläuterte den Grund seines Besuchs.
»Alles klar, kommen Sie mit, ich zeige es Ihnen.« Li führte Hunter durch eine Tür am hinteren Ende des Ladens, die in einen groÃen, vorbildlich organisierten Lagerraum führte. Es roch angenehm nach einer Mischung aus exotischen Gewürzen, SoÃen, Seife, Obst und noch nicht abgebrannten Räucherstäbchen. Vom Lagerraum aus gelangte man über einige Stufen in das Büro des Ladens. Dort hingen Hunderte chinesischer Kalender an den Wänden. Hunter hatte noch nie so viele auf einmal gesehen, das gesamte Büro war damit tapeziert. Abgesehen von den Kalendern gab es
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