Der Knochenbrecher
fertigen Gemälde sowie ein alter zerschlissener Sessel in der Nähe des Fensters mit Blick auf die Staffelei. Es gab keine groÃen Leinwände, keine Raumteiler oder sonstige Gegenstände, hinter denen sich jemand hätte verstecken können. In einer Ecke war eine provisorische Küche eingerichtet, gegenüber befand sich eine kleine Nasszelle. Hunter sah sich gründlich um. Es war ausgeschlossen, dass der Täter sich unbemerkt im Atelier auf die Lauer gelegt und Kelly hinterrücks überwältigt hatte.
Hunter ging erneut zum Fenster und starrte in die Nacht hinaus. Weil das Atelier auf einem Hügel lag, war der Ausblick unverbaut und ziemlich beeindruckend. Kein Wunder, dass Kelly mit Blick zum Fenster gearbeitet hatte. Als Nächstes inspizierte er die Schlösser. Sie waren alle relativ neu und von solider Qualität. Der Parkplatz lag zur Linken des Ateliers. Vom Fenster aus war nur ein kleiner Teil davon einsehbar.
Plötzlich nahm er drauÃen vor dem Fenster, nur wenige Meter entfernt, eine blitzschnelle, unglaublich geschmeidige Bewegung wahr.
»Mist!« Hunter sprang zurück und zog seine Waffe.
Eine schwarze Katze huschte drauÃen über den Fenstersims. Hunter stand da wie erstarrt, beide Arme ausgestreckt, die Finger fest am Griff seiner Pistole. Sein Puls raste.
»Verdammte ScheiÃe! Nicht zweimal in einer Nacht«, stieà er schlieÃlich hervor. Wieso hatte er die Katze nicht bemerkt? Er machte einen Schritt aufs Fenster zu und spähte erneut hinaus. Durch die Dunkelheit wirkte das Fenster fast wie ein Spiegel. Jemand, der dunkle Kleider trug, hätte Kelly nachts völlig unbemerkt beobachten können. Hunter entriegelte das Fenster, öffnete es und genoss die kühle Brise, die ihm ins Gesicht wehte. Er lehnte sich hinaus und sah erst nach rechts, dann nach links zum Parkplatz hinüber. An der hinteren Wand leuchtete in der Dunkelheit ein winziges rotes Licht.
57
Der gellende Schrei lieà Jessica Black jäh hochfahren. Sie war auf dem Sofa eingenickt und hatte nicht gemerkt, dass im Fernsehen ein alter SchwarzweiÃhorrorfilm angefangen hatte.
Sie rieb sich die brennenden Augen, setzte sich auf und sah sich suchend nach ihrem Freund Mark um. Er war nirgendwo zu sehen.
Die Frau im Fernsehen schrie erneut, und Jessica tastete verschlafen nach der Fernbedienung, die ihr zwischen die Beine gerutscht war. Sie schaltete den Apparat aus. Die Duftkerze, die sie vorhin angezündet hatte, war halb heruntergebrannt, und die Luft im Raum war erfüllt mit dem Aroma von Ãpfeln und Zimt. Jessica starrte eine Weile versonnen in die Flamme. Ihre Wechter-Akustikgitarre lehnte neben dem Sofa. Ohne den Blick von der Kerzenflamme zu nehmen, glitt sie mit der Hand über die Saiten und lieà sich von Erinnerungen davontragen.
Jessica hatte ihre allererste Gitarre zu ihrem zehnten Geburtstag bekommen. Ihr Vater hatte sie bei einem Garagenverkauf erstanden. Eigentlich war sie nicht viel mehr als ein altes, zerkratztes Stück Holz mit stumpfen Saiten, und wenn man sie zupfte, klang es eher nach sterbendem Hund als nach Musik, aber Jessica verstand trotz ihrer jungen Jahre, dass ihr Vater etwas gekauft hatte, was er sich eigentlich nicht leisten konnte, weil er seine Tochter glücklich machen wollte. Und sie war glücklich.
Ihre Leidenschaft fürs Gitarrenspiel hatte sie zwei Jahre zuvor entdeckt. Bevor ihre Mutter krank wurde, war sie jeden Nachmittag mit Jessica in den Park gegangen. Einmal hatte dort ein alter farbiger Mann gesessen und Gitarre gespielt, wenige Schritte von der Bank entfernt, auf der ihre Mutter es sich immer gerne bequem machte. An dem Tag war Jessica nicht wie sonst mit den anderen Kindern herumgetobt, sondern hatte sich vor den Mann ins Gras gesetzt und ihm den ganzen Nachmittag lang zugehört. Sie war wie verzaubert von den Klängen, die er den sechs Saiten seines Instruments entlocken konnte.
Sie hatte den alten Mann im Park danach nie wiedergesehen, aber vergessen hatte sie ihn auch nicht. Eine Woche später war ihre Mutter krank geworden. Die Krankheit, die allen Ãrzten Rätsel aufgab, verschlimmerte sich rasch. Sie fraà an ihrer Mutter und verwandelte die einstmals so strahÂlende, lebensfrohe Frau in jemanden, den Jessica gar nicht wiedererkannte â ein Gespenst aus Haut und Knochen. Ihr Vater siechte zusammen mit seiner Frau dahin. Je weiter die Krankheit fortschritt, desto schwerer
Weitere Kostenlose Bücher