Der Knochendieb
Gefühle für sie entwickelt habe. Romantische Gefühle. Neulich haben wir in ihrer Wohnung zu Abend gegessen. Eines führte zum anderen, und plötzlich lag ich in ihren Armen und küsste sie. Ich habe seit sechs Jahren keine Frau mehr geküsst, Father. Und ich kann nicht leugnen, dass es mir gefallen hat.«
»Wurden Sie katholisch erzogen, Lieutenant?«
»Ja. Ich war auf einer katholischen Grundschule und auf einer katholischen Highschool. Ich war sogar vier Jahre lang Ministrant. Damals wurde die Messe noch auf Latein gehalten.«
»Das war vor meiner Zeit.«
»Father, ich glaube, ich bin gekommen, um mir die Absolution erteilen zu lassen. Die Absolution für eine Sünde, die ich noch gar nicht begangen habe. Können Sie damit etwas anfangen?«
»Und um welche Sünde handelt es sich?«
»Mein Ehegelübde zu brechen. Meine Frau zu betrügen.«
»Sie haben also bereits beschlossen, diese Beziehung weiterzuverfolgen?«
»Daher kommen ja die Schuldgefühle. Ich weiß, dass Colette nie wieder zum Leben im eigentlichen Sinne erwachen wird, doch eine innere Stimme verlangt von mir, dass ich ihr treu bleibe, egal in welchem körperlichen Zustand sie sich befindet.«
»Sie haben vorhin gesagt, alle ihre Ärzte seien sich darin einig, dass sie nie wieder das Bewusstsein erlangen wird. Stimmt das?«
»Ja.«
»Unabhängig davon, wie Ihrer Meinung nach die katholische Kirche Ihre Situation betrachten würde,
welchen Rat würde Ihre Frau Ihnen geben, wenn sie könnte?«
»Colette war meine beste Freundin. Langsam glaube ich, dass sie Verständnis dafür hätte. Oder versuche ich damit nur, mein Gelübde zu umgehen?«
»Ich glaube, die Antwort auf diese Frage liegt in Ihnen selbst. Sie müssen mit sich leben. Aber lassen Sie mich eines sagen: Jesus Christus, der als Mensch über diese Erde gewandelt ist, hat zwölf Apostel gewählt, nicht einen. Und seine Liebe zu jedem von ihnen war unermesslich.«
»Dann würden Sie eine Beziehung zu dieser anderen Frau also billigen?«
»Jedenfalls würde es nicht bedeuten, dass Sie Ihre Frau nicht mehr lieben. Das müssen Sie sich klarmachen.« McMahon lehnte sich über den Schreibtisch und sah Driscoll eindringlich an. »Sie haben vorhin gesagt, dass Colette Ihre beste Freundin war.«
»Das stimmt.«
»Nun, dann würde ich sagen, es ist höchste Zeit für ein Gespräch mit Ihrer besten Freundin.«
41. KAPITEL
Driscoll ging mit weichen Knien auf das Haus zu. Er nahm alle Kraft zusammen, doch als er nach dem Türknauf griff, verkrampfte sich sein Magen. Wie ein Schulbub, der zu spät zum Unterricht erscheint, zog er schuldbewusst die Tür auf und trat ein. Das bisher von ihm unbemerkte Surren der Geräte, die seine Frau am Leben erhielten, gellte ihm in den Ohren.
»Alles in Ordnung, Lieutenant?«, fragte Lucinda, Colettes Pflegerin. »Sie sehen aus, als wäre Ihnen übel.«
Driscoll rang sich ein Lächeln ab. »Ich werd’s überleben«, erwiderte er und richtete den Blick auf Colettes aschfahles Gesicht. »Würden Sie uns bitte entschuldigen, Lucinda? Ich möchte mit meiner Frau allein sein.«
»Aber sicher«, sagte die Pflegerin und ging rasch hinaus, während sich der Lieutenant rittlings auf einen Stuhl ans Bett setzte.
Hinter ihm spielte ein Orchester aus medizinischen High-Tech-Apparaten seine monotone und ewig gleiche Symphonie. Vor ihm lag seine Frau, seine schöne und liebevolle Frau. Wie konnte er je wieder lieben? Wie konnte er dieses Risiko eingehen? Oft hatte er das Gefühl, er habe das Schicksal seiner Frau irgendwie mit verursacht. Vielleicht war es die Strafe für ein uneingestandenes Versäumnis. Würde er dann auch Margaret in Gefahr bringen? Würde auch sie ein Opfer seines Unglücks werden?
Driscoll griff nach der Hand seiner Frau. Ihre Haut fühlte sich leblos an. Tränen traten ihm in die Augen, als er den Ehering an ihrem Finger betastete. Er zog die Schublade ihres Nachttischs auf, holte die Feuchtigkeitscreme heraus, die ihm Thomlinson besorgt hatte, und cremte ihr Hände und Arme damit ein - dieselben Hände und Arme, die ihn jahrelang liebevoll umfangen hatten. In guten wie in schlechten Tagen, flüsterte eine leise Stimme. Er verzog das Gesicht. Was sollte er nur tun? Wie konnte er sein Ehegelübde derart mit Füßen treten? Er rief sich in Erinnerung, was ihm Father McMahon erklärt hatte. Jesus hatte sich zwölf Apostel erwählt, nicht einen.
»Ich habe eine Frau kennen gelernt«, flüsterte er, während ihm das Herz bis zum Hals schlug.
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