Der Knochenjäger
neunziger Jahren des letzten Jahrhunderts. Nördlich der heutigen Battery Park City. Sie wirken gelangweilt. Keine Lust mehr, sich den schlaffen Arsch eines Krüppels anzugucken ? Nein. Wie belieben. Der Pier befand sich zwischen der North Moore und der Chambers Street. Ich bin da reingesprungen, um die Anlegestege geschwommen...«
»North Moore und Chambers«, schrie Sachs und kehrte um. Die Stelle war ihnen entgangen, weil sie zu weit nach Süden gefahren waren. Sie lag etwa vierhundert Meter nördlich von ihnen. Sie sah eine morsche braune Holzkonstruktion, ein großes Abflußrohr, in das bei Flut das Seewasser eindrang. Wieviel Zeit hatten sie noch? So gut wie gar keine mehr. Nie und nimmer konnten sie das Opfer retten.
Sie riß den Kopfhörer herunter und rannte zum Auto. Banks war dicht hinter ihr.
»Können Sie schwimmen?« fragte sie.
»Ich? Ab und an ein paar Züge im Fitness-Club.«
Niemals war das zu schaffen.
Sachs blieb plötzlich stehen, drehte sich einmal rasch um die eigene Achse und blickte auf die menschenleeren Straßen.
Das Wasser stand ihm fast bis zur Nase. William Everett wollte gerade einatmen, als ihm eine flache Welle über das Gesicht spülte und das Salzwasser in seinen Hals drang. Gurgelnd würgte er es heraus - ein tiefer, grausiger Ton. Rasselnd. Er glitt von dem Stützpfosten ab, geriet unter Wasser, reckte sich, tauchte wieder auf und ging erneut unter. Nein, lieber Gott, nein ... bitte, laß nicht zu, daß -Er rüttelte an den Handschellen, trat um sich, versuchte, sie irgendwie zu lockern. So als könnte er wie durch ein Wunder die mächtige Eisenschraube, an die er gekettet war, mit seinen schwächlichen Muskeln verbiegen.
Prustend stieß er das Wasser aus der Nase und schüttelte hektisch den Kopf. Einen Moment lang konnte er wieder frei atmen. Seine Nackenmuskeln schmerzten - fast so schlimm wie der gebrochene Finger -, weil er ständig den Kopf nach hinten reckte, der Luft entgegen, die verlockend über ihm lag.
Eine kurze Gnadenfrist war ihm vergönnt.
Dann kam die nächste Welle, wieder etwas höher.
Das war das Ende.
Er konnte nicht mehr. Gib's auf, sagte er sich. Geh zu Evelyn, laß es gut sein ...
Und William Everett ließ es gut sein. Er versank in der dreckigen Brühe, inmitten von Abfall und angeschwemmtem Seetang.
Erschrocken riß er den Kopf wieder hoch. Nein, nein ...
Er war da. Der Kidnapper! Er war zurückgekommen.
Everett trat mit den Füßen, schluckte erneut Wasser, versuchte sich verzweifelt loszureißen. Der Mann strahlte ihn mit einer grellen Lampe an und stieß mit einem Messer nach ihm.
Nein, nein ...
Er begnügte sich nicht damit, ihn zu ertränken - er wollte ihn auch noch verstümmeln. Everett trat blindlings nach ihm. Doch der Kidnapper verschwand im Wasser ... und dann, auf einmal, waren seine Hände frei.
Der alte Mann vergaß seine Abschiedsworte, stieß sich wie von tausend Teufeln gejagt nach oben, sog gierig die faulige Luft durch die Nase ein und riß das Klebeband von seinem Mund. Er japste, spie brackiges Wasser aus. Er stieß mit dem Kopf an die Unterkante des Piers und lachte laut auf. »Oh, mein Gott, o Gott, o Gott...«
Dann tauchte ein anderes Gesicht auf... Ebenfalls unter einer Art Kapuze, an der eine grelle Lampe angebracht war, und dann erkannte Everett, daß der Mann einen Taucheranzug trug, auf dem das Abzeichen der New Yorker Feuerwehr prangte. Und die Männer hatten auch keine Messer in der Hand, sondern Bolzenschneider. Einer von ihnen schob ihm ein bitter schmeckendes Mundstück zwischen die Zähne, und Everett sog den frischen Sauerstoff ein, bis ihm schwindlig wurde.
Der Taucher legte den Arm um ihn und schwamm mit ihm zur Außenkante des Piers.
»Tief Luft holen. Wir sind gleich draußen.«
Er atmete ein, bis ihm schier die Lunge barst, schloß die Augen und sank mit dem Taucher hinab in das Wasser, das im Schein seiner Taschenlampe grausig gelb aufleuchtete. Es war ein kurzer, aber beschwerlicher Tauchgang - steil nach unten, dann durch das trübe, dreckige Wasser wieder nach oben. Einmal entglitt er dem Taucher und war einen Moment lang auf sich allein gestellt. Doch William Everett hielt sich wacker. Nach diesem Abend konnte ihn auch ein einsames Bad im kabbeligen Hudson nicht mehr erschüttern.
Sie hatte eigentlich gar kein Taxi nehmen wollen. Der Airport-Bus war nicht schlecht.
Doch Pammy war völlig überdreht, weil sie zuwenig geschlafen hatte - sie waren beide seit fünf Uhr morgens auf den
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