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Der Knochenjäger

Titel: Der Knochenjäger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jeffery Deaver
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einem verfallenden Pier angekettet. In einem Gelaß, denn die Längsseite war mit Planken verschalt, einer Art Wellenbrecher, deren Unterkante sich mittlerweile kaum mehr fünfzehn Zentimeter über dem Wasser befand. Die Lichter der Boote, die sich auf dem Fluß spiegelten, und der helle Schein der Industrieanlagen drüben in New Jersey glitzerten durch den schmalen Spalt. Nach oben, zum Pier hin, waren noch gut anderthalb Meter Platz, doch inzwischen stand ihm das Wasser bis zum Hals, und er konnte den Kopf nicht höher halten, sosehr er auch an den Handschellen zerrte.
    Wieder dieser gräßliche Schmerz, der vom Finger über den Arm bis in den Kopf ausstrahlte. Everett verlor die Besinnung. Er sackte vornüber, bekam Wasser in die Nase, prustete und kam wieder zu sich.
    Dann stieg der Mond ein Stück höher und mit ihm die Flut, und auf einmal war das hölzerne Gelaß von der Außenwelt abgeschnitten. Dunkelheit rundum. Er hörte jetzt nur mehr die schwappenden Wellen und sein eigenes Stöhnen.
    Er wußte, daß er so gut wie tot war, daß er sich allenfalls noch ein paar Minuten über der stinkenden Brühe halten konnte. Er schloß die Augen und drückte das Gesicht an den glitschigen schwarzen Pfahl, an den er gekettet war.
     
     
    EINUNDZWANZIG
    »Runter nach Downtown, Sachs«, krächzte Rhymes Stimme aus dem Funkgerät.
    Sie trat das Gaspedal des Kombis durch und raste mit rotem Blinklicht über den West Side Highway in Richtung Downtown. Rücksichtslos jagte sie den Wagen bis auf hundertdreißig Sachen hoch.
    »Okay, wow«, rief Jerry Banks.
    Straßen abzählen. Die Dreiundzwanzigste Straße, die Zwanzigste, die Verladerutsche an der Vierzehnten Straße, wo die Frachtkähne der Müllabfuhr anlegten. Als sie durchs Village rasten, durch den Schlachthofbezirk, stieß ein Sattelzug unmittelbar vor ihnen aus einer Seitenstraße. Statt abzubremsen, zog sie den Wagen wie ein Hindernisreiter über den Bordstein am Mittelstreifen, was Banks eine Reihe atemlos hervorgestoßener Flüche entlockte, während der Fahrer des großen weißen Trucks ein spektakuläres Ausweichmanöver hinlegte und lauthals die Preßluftfanfare aufheulen ließ.
    »Ups«, sagte Amelia Sachs und fädelte sich wieder auf der Spur in Richtung Süden ein. »Sagen Sie das noch mal«, meldete sie sich bei Rhyme. »Ich hab's nicht mitbekommen.«
    Rhymes blecherne Stimme schallte aus dem Kopfhörer. »Runter nach Downtown, mehr kann ich Ihnen nicht sagen. Bis wir herausfinden, was das Blatt bedeutet.«
    »Wir kommen nach Battery Park City.«
    »Noch fünfundzwanzig Minuten bis zum höchsten Wasserstand«, rief Banks.
    Vielleicht konnten ihm Dellray und seine Männer eine genaue Ortsangabe entlocken. Sie könnten den Unbekannten irgendwo in eine Seitengasse schleppen und eine Tüte mit Äpfeln mitnehmen. Nick hatte ihr erzählt, daß man Straftäter auf diese Weise dazu brachte, einem zu »helfen«. Knall ihnen eine Obsttüte in den Unterleib. Sehr schmerzhaft. Keinerlei Spuren. In ihrer Jugend hätte sie nicht geglaubt, daß Polizisten so etwas machten. Jetzt wußte sie es besser.
    Banks tippte ihr an die Schulter. »Da drüben. Ein Haufen alter Piers.«
    Morsches Holz, faulig und verfallen. Ein unheimlicher Anblick.
    Mit quietschenden Reifen blieben sie stehen, stiegen aus und rannten zum Wasser.
    »Sind Sie dran, Rhyme?«
    »Reden Sie mit mir, Sachs. Wo sind Sie?«
    »An einem Pier etwas nördlich von Battery Park City«
    »Lon hat sich gerade von der East Side gemeldet. Er hat nichts gefunden.«
    »Es ist aussichtslos«, sagte sie. »Hier gibt's gut ein Dutzend Piers. Dazu die ganze Promenade ... Und die Feuerlöschboot-Station, die Anleger für die Fähren und der Pier am Battery Park ... Wir brauchen das Einsatzkommando.«
    »Wir haben kein Einsatzkommando, Sachs. Die stehen uns nicht mehr zur Verfügung.«
    Noch zwanzig Minuten bis Hochwasser.
    Suchend blickte sie die Küste auf und ab. Ließ hilflos die Schultern sinken. Dann legte sie die Hand an die Waffe und rannte zum Fluß. Jerry Banks folgte ihr auf dem Fuß.
    »Sag mir etwas zu diesem Blatt, Mel. Rate von mir aus, aber mach irgendwas. Laß dir etwas einfallen.«
    Unruhig blickte Cooper vom Mikroskop zum Computermonitor.
    Achttausend Blattpflanzenarten gab es in Manhattan.
    »Von der Zellstruktur her läßt es sich nirgendwo zuordnen.«
    »Es ist alt«, sagte Rhyme. »Wie alt?«
    Cooper betrachtete wieder das Blatt. »Verdorrt. Etwa hundert Jahre, würde ich meinen, vielleicht etwas

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