Der Knochenjäger
irgendwo in einem unterirdischen Verlies festgehalten wurde und dem Tod nahe war. Sie fing an, schneller zu suchen, raste durch die Straßen, hielt links und rechts Ausschau nach einem Haus mit rosa Marmorfassade. Zweifel nagten an ihr. Hatte sie das Gebäude vor lauter Eile übersehen? Oder sollte sie noch viel schneller fahren und mehr Straßen absuchen?
Immer weiter. Noch ein Straßenzug, dann der nächste. Und immer noch nichts.
Nach des Schurken Tod wurde seine Habe von Detektiven sichergestellt und gesichert. Sein Tagebuch enthüllte, daß er acht ehrenwerte Bürger der Stadt ermordet hatte. Doch auch zu Grabräubereien war er sich nicht zu schade, denn aus seinen Schriften erfuhr man (so er die Wahrheit schrieb), daß er mehrere letzte Ruhestätten auf den Friedhöfen der Stadt geschändet hatte. Keines seiner Opfer hatte ihm das geringste zuleide getan - im Gegenteil, handelte es sich doch zumeist um aufrechte Bürger, arbeitsam und über jeden Arg erhaben. Und doch tötete er sie, ohne die geringste Schuld zu empfinden. Vielmehr hat es den Anschein, als habe er in seinem Wahn geglaubt, er erweise seinen Opfern einen Gefallen.
Lincoln Rhyme bewegte kurz den linken Ringfinger, und das Umblättergerät schlug die Seite aus Dünndruckpapier von Berühmte Kriminalfälle im alten New York um, das ihm zwei Bundesbeamte vor zehn Minuten vorbeigebracht hatten - ein prompter Service, dank Fred Dellrays unnachahmlicher Art.
»Das Fleisch ist schwach und vergänglich.« So hatte der Schurke ruchlos, doch mit steter Hand geschrieben. »Die Gebeine sind es, die dem Leib Kraft und Stärke verleihen. Sosehr das Fleisch auch altern mag, unsere Gebeine werden stets jung bleiben. Ich habe ein edles Ziel verfolgt, und es entzieht sich meinem Verständnis, wie jemand dies bestreiten will. Ich habe ihnen einen Freundschaftsdienst erwiesen. Sie sind nun unsterblich. Ich habe sie befreit. Ich habe sie entbeint, bis auf die Knochen.«
Terry Dobyns hatte recht gehabt. Das zehnte Kapitel, »James Schneider - der >Knochensammler<« war die buchstabengetreue Vorlage für das Verhalten des Unbekannten. Die Methoden waren identisch - Feuer, Tiere, Wasser, heißer Dampf. 238 trieb sich an den gleichen Orten herum wie Schneider. Er war auf der Suche nach einem Opfer in ein Wohnheim für Deutsche eingestiegen, hatte eine deutsche Besucherin mit Hanna Goldschmidt verwechselt, die um die Jahrhundertwende nach Amerika ausgewandert war. Und die kleine Pammy Ganz hatte er mit Maggie angeredet - offenbar meinte er, es handle sich um die kleine O'Connor, eins von Schneiders Opfern.
Auf einem sehr schlechten, durch Pergamentpapier geschützten Stich sah man den dämonisch wirkenden James Schneider, wie er in einem Kellerraum saß und einen Beinknochen untersuchte.
Rhyme musterte das Randeische Meßtischblatt von Manhattan.
Knochen...
Rhyme erinnerte sich an einen Tatort, den er einst bearbeitet hatte. Er war zu einer Baustelle im südlichen Manhattan gerufen worden, wo Arbeiter bei Ausschachtungsarbeiten auf einem unbebauten Grundstück einen Schädel gefunden hatten. Rhyme hatte sofort erkannt, daß es sich um einen sehr alten Schädel handelte, und einen forensischen Anthropologen hinzugezogen. Gemeinsam hatten sie weitergegraben und noch mehr Knochen und vollständige Skelette entdeckt.
Bei ihren Nachforschungen hatten sie festgestellt, daß es 1741 in Manhattan einen Sklavenaufstand gegeben hatte, nach dessen Niederschlagung etliche Sklaven - und eine Reihe militanter weißer Sklavereigegner - auf einer kleinen Insel im Collect gehängt worden waren. Die Insel wurde im Lauf der Zeit zu einer öffentlichen Hinrichtungsstätte, und in der Gegend entstanden etliche inoffizielle Gräberfelder und Armsünderfriedhöfe.
Wo war der Collect gewesen? Rhyme versuchte sich zu erinnern. Etwa in der Gegend, wo Chinatown und die Lower East Side aufeinandertrafen. Aber mit letzter Gewißheit ließ sich das schwer sagen, da das Gewässer schon vor langer Zeit zugeschüttet worden war. Es war Ja! dachte er, und sein Herz schlug einen Takt schneller. Der Collect war aufgefüllt worden, weil er so verschmutzt gewesen war, daß er nach Ansicht der Stadtverwaltung eine Gefahr für das Allgemeinwohl darstellte. Und zu dieser Verschmutzung hatten hauptsächlich die Gerbereien am Ostufer beigetragen!
Rhyme, der mittlerweile ziemlich gut mit der Telefonbedienung zurechtkam, wählte auf Anhieb die richtige Nummer und wurde unverzüglich zum Bürgermeister
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