Der Knochenjäger
Sie zog eine feierliche Miene, während sie ihr kostbares Telefonat führte. Mit wem? fragte er sich. Einem Freund, ihrem Mann? Einer Kindertagesstätte? Warum hatte sie gezögert, bevor sie ihren Freund erwähnte, als sie ihm von dem Collie erzählt hatte? Rhyme wettete, daß dahinter eine Geschichte steckte.
Wen immer sie auch anrufen wollte, er war nicht da. Er bemerkte, wie ihre Augen dunkelblau und hart wurden, als sich niemand meldete. Sie blickte auf und ertappte Rhyme dabei, wie er sie im verstaubten Spiegel beobachtete. Sie drehte ihm den Rücken zu. Dann legte sie den Hörer auf und kehrte ins Schlafzimmer zurück.
Ganze fünf Minuten lang herrschte Schweigen. Rhyme konnte die innere Anspannung nicht durch körperliche Betätigung abbauen, wie dies die meisten Menschen tun. Als er sich noch bewegen konnte, war er immer wie ein Verrückter auf und ab gegangen und hatte sämtliche Mitarbeiter der IRD zum Wahnsinn getrieben. Jetzt betrachtete er eingehend die Randel-Karte, während Sachs unter ihre Dienstmütze griff und sich am Kopf kratzte. Mel Cooper sortierte ruhig wie ein Chirurg die bisherigen Spuren.
Alle bis auf einen fuhren hoch, als Sellittos Telefon schnarrte. Er hörte zu, dann verzog er das Gesicht zu einem breiten Grinsen.
»Wir haben's! Einer von Haumanns Trupps ist an der Eleventh, Ecke Sechzigste. Irgendwo in der Gegend schreit eine Frau. Sie wissen nicht genau, wo. Sie gehen von Tür zu Tür.«
»Machen Sie sich auf die Socken«, befahl Rhyme Sachs.
Er sah, wie ihre Mundwinkel nach unten sackten. Sie warf einen Blick auf Rhymes Telefon, so als könnte jeden Moment der Gouverneur anrufen und ihre Begnadigung verkünden. Dann ein Blick zu Sellitto, der über der Generalstabskarte von der West Side brütete.
»Amelia«, sagte Rhyme, »wir haben ein Opfer verloren. Das ist schlimm. Aber wir müssen nicht noch eins verlieren.«
»Wenn Sie sie gesehen hätten«, flüsterte sie. »Wenn Sie nur gesehen hätten, was er mit ihr gemacht hat -«
»Oh, aber das habe ich, Amelia«, sagte er ruhig, doch mit unerbittlich forderndem Blick. »Ich habe gesehen, was T. J. widerfahren ist. Ich habe gesehen, was aus einer Leiche wird, die bei Hitze einen Monat lang in einem Kofferraum liegt. Ich habe gesehen, was ein Pfund Plastiksprengstoff mit menschlichen Gliedmaßen und Gesichtern anrichtet. Ich habe den Brand im Happy-Land-Club bearbeitet. Über achtzig Menschen sind dabei verbrannt. Wir haben Polaroidaufnahmen von den Gesichtern der Opfer gemacht, beziehungsweise von dem, was davon übrig war, damit die Angehörigen sie identifizieren konnten - weil kein Mensch auf der Welt die Reihen der Toten hätte abschreiten können, ohne den Verstand zu verlieren. Außer uns. Wir hatten keine andere Wahl.« Er atmete tief ein, um den quälenden Schmerz zu unterdrücken, der durch seinen Hals schoß. »Sehen Sie, Amelia, wenn Sie in diesem Beruf zurechtkommen wollen ... Wenn Sie im Leben zurechtkommen wollen, müssen Sie lernen, die Toten ruhen zu lassen.«
Während dieser Ansprache hatten die anderen nach und nach ihre Arbeit unterbrochen und schauten nun zu ihnen her.
Diesmal schenkte Amelia Sachs ihm keinen freundlichen Blick.
Kein höfliches Lächeln. Einen Moment lang bemühte sie sich um einen unergründlichen Blick. Doch sie war nur allzu leicht zu durchschauen. Sie kochte vor Wut - so sehr, daß es in keinem Verhältnis mehr zu seiner Bemerkung stand - und zog ein finsteres, verkniffenes Gesicht. Sie fegte eine widerspenstige rote Haarsträhne beiseite und schnappte sich den auf dem Tisch liegenden Kopfhörer. An der Treppe blieb sie kurz stehen, warf Rhyme einen vernichtenden Blick zu, der ihn daran erinnerte, daß es nichts Kälteres gab als das frostige Lächeln einer schönen Frau.
Und aus irgendeinem Grund dachte er: Schön, daß du wieder da bist, Amelia.
»Was haste denn? Haste Ware, haste 'ne Story, haste Bilder?«
Der Stinker saß in einer Bar an der East Side von Manhattan, an der Third Avenue - die in der Stadt die gleiche Funktion erfüllt wie die Einkaufszentren in der Provinz. Es war eine schmuddelige Kneipe, in der sich schon bald angehende Yuppies tummeln würden. Doch derzeit verkehrten dort hauptsächlich schlecht gekleidete Anwohner, die fragwürdige Fischgerichte und matschige Salate zum Abendbrot aßen.
Der hagere Mann, dessen Haut wie knorriges Ebenholz aussah, trug ein blütenweißes Hemd und einen grellgrünen Anzug. Er beugte sich näher zu dem Stinker. »Haste was Neues,
Weitere Kostenlose Bücher