Der Knochenjäger
denken, wie es vor dem Unfall war. Daß Sie sich an die guten und die schlechten Dinge erinnern. An Freude, an Trauer ... Das können Sie wieder empfinden.« Der Arzt hatte ihn mit ausdrucksloser Miene angesehen. »Aber offen gesagt, habe ich hier wohl jemanden vor mir, der sich aufgegeben hat.«
Taylor hatte den Halswirbel auf dem Nachttisch liegenlassen. Versehentlich, so schien es. Doch dann wurde Rhyme klar, daß er es bewußt getan hatte. Im Laufe der letzten Monate hatte Rhyme immer wieder auf das kleine Knochenstück gestarrt, während er darüber nachgrübelte, ob er sich umbringen sollte oder nicht. Mittlerweile war es zu einer Art Symbol für Taylors Einstellung geworden - ein Anreiz weiterzuleben. Doch letzten Endes hatte er sich mit seiner Haltung nicht durchsetzen können. Seine Worte, so wertvoll sie auch sein mochten, hatten nicht gegen die Schmerzen ankommen können, gegen die Qual und die Erschöpfungszustände, die Lincoln Rhyme Tag für Tag heimsuchten.
Er wandte den Blick von dem Knochen ab - zu Sachs - und sagte: »Ich möchte, daß Sie sich in Gedanken noch einmal an den Tatort versetzen.«
»Ich habe Ihnen doch schon alles erzählt, was ich gesehen habe.«
»Es geht mir nicht ums Sehen. Ich will wissen, was Sie empfunden haben.«
Rhyme dachte an all die vielen Tatorte, die er untersucht hatte. Manchmal geschah ein Wunder. Man schaute sich um, und irgendwie bekam man plötzlich ein Gespür für den Täter. Er konnte nicht erklären, woher das kam. Die Psychologen redeten ständig von Täterprofilen, so als hätten sie das erfunden. Aber schon seit Hunderten von Jahren suchten Kriminalisten die Psyche eines Täters, sein Motiv und seine Verhaltensweisen zu ergründen. Man mußte den Tatort abschreiten, feststellen, wo er gegangen war, die Spuren finden, die er hinterlassen hatte, sich vorstellen, worauf er es abgesehen hatte - dann konnte man sich hinterher ein Bild von ihm machen, hatte ein Profil. So deutlich wie ein Paßfoto.
»Sagen Sie's mir«, hakte er nach. »Was für ein Gefühl hatten Sie?«
»Beklommenheit. Anspannung. Hitze.« Sie zuckte die Achseln. »Ich weiß es nicht. Wirklich nicht. So leid's mir tut.«
Wenn er sich hätte bewegen können, wäre Rhyme aufgesprungen, hätte sie an der Schulter gepackt und geschüttelt. Geschrien: Aber Sie wissen doch, was ich meine! Ich weiß es. Warum ziehen Sie nicht mit? ... Warum gehen Sie nicht auf mich ein?
Dann wurde ihm plötzlich klar: Sie war bereits dort, im dumpfigen Keller. Über T. J. Colfax' Leiche gebeugt. Atmete den widerwärtigen Geruch ein. Er erkannte es daran, wie sie mit dem Daumen an einem blutigen Nagelbett herumzupfte, an der unverbindlichen Höflichkeit, die sie aufrechtzuerhalten versuchte. Sie sträubte sich dagegen, sich wieder in diesen widerwärtigen Keller zu versetzen, und sie haßte ihn, weil er sie daran erinnerte, daß sie noch längst nicht damit fertig war.
»Sie gehen durch den Raum«, sagte er.
»Ich glaube wirklich nicht, daß ich Ihnen weiterhelfen kann.«
»Spielen Sie mit«, sagte er und bezähmte seinen Unmut. Er lächelte. »Sagen Sie mir, was Sie gedacht haben.«
»Es sind ... bloß Gedanken«, sagte sie mit unbewegter Miene. »Eindrücke, wie sie jeder gehabt hätte.«
»Aber Sie waren da. Nicht jeder. Sagen Sie's uns.«
»Ich hatte Angst oder irgendwas ...« Offenbar bedauerte sie die unbeholfene Ausdrucksweise.
Unprofessionell...
»Ich hatte das Gefühl -«
»Daß jemand Sie beobachtet?« fragte er.
Das überraschte sie. »Ja. Genau das ist es.«
Rhyme hatte dieses Gefühl selbst schon gehabt. Oftmals. Er hatte es vor dreieinhalb Jahren gehabt, als er sich über die verwesende Leiche des jungen Polizisten gebeugt und eine Faser von dessen Uniform gezupft hatte. Er war überzeugt gewesen, daß jemand in der Nähe war. Doch da war niemand gewesen - nur ein starker Eichenbalken, der genau in diesem Moment geborsten und mit voller Wucht auf den Dornfortsatz von Lincoln Rhymes viertem Halswirbel heruntergekracht war.
»Was haben Sie sonst noch gedacht, Amelia?«
Sie wehrte sich nicht mehr dagegen. Ihr Mund wirkte gelöst, ihr Blick schweifte über das eingerollte Nighthawks-Poster - die einsamen Zecher, die vielleicht ganz gern allein waren. »Na ja«, sagte sie, »ich weiß noch, daß ich mir gedacht habe: >Mann, ist das Haus alt.< Es war so ähnlich wie auf den Bildern, die man manchmal sieht, wie eine Fabrik um die Jahrhundertwende oder so. Und ich -«
»Moment«, rief Rhyme.
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